Hugo Hamilton. Foto: Luchterhand

Hugo Hamilton: Haben die Iren die Wut in den Wohlstandsjahren hinter sich gelassen? Foto: Luchterhand / Mike Wolff

Warum sind die Iren angesichts der anhaltenden Finanz-, Banken- und Wirtschaftskrise so duldsam? Warum brennen in Dublin nicht die Straßen, warum gibt es kaum Demonstrationen, und wo bleibt die Wut der Menschen, die seit Jahren nun schon mit hohen Steuern und einem eingedampften Staatshaushalt die Milliardenschulden der Zockerbanken zurückzahlen? Eine interessante Antwort auf diese Fragen gab in der zu Ende gehenden Woche der irische Schriftsteller Hugo Hamilton*. Der 1953 in Dublin geborene Sohn einer Deutschen und eines Iren schreibt in einem Beitrag für die Wochenzeitung “Die Zeit”:

” . . . unser Zorn wird gemäßigt von einer neuen Erkenntnis der Vernetztheit der Welt. Unsere Souveränität, die uns so lieb und teuer und romantisch war, ist in ihr zum Mythos geworden. Wir ahnen, dass wir nach dem Opportunismus und der Kasinowirtschaft in eine Phase des Pragmatismus eintreten werden müssen. Aber was wäre eine pragmatische Perspektive für die Iren?
“Der Romancier John Lanchester sagt, im 21. Jahrhundert werde ein Land, welches im 20. Jahrhundert versucht habe, Europa zu dominieren, gegen seinen Willen gezwungen, Europa zu dominieren. Es gibt da etwas an der ruhigen Hand Deutschlands, das wir zu bewundern gelernt haben, etwas an der Fähigkeit Deutschlands, sich zu erneuern, etwas an der Art und Weise, wie Deutschland sich mit seiner Vergangenheit auseinandergesetzt hat, das Vertrauen einflößt. Vielleicht wird sich der Blick, der durchgehend auf den Amerikanischen Traum gerichtet war, hin zu den ruhigeren Versprechen eines Europäischen Traums drehen.

Wir hatten unsere Revolution in Irland. Unsere Freiheiten kamen schnell und kamen langsam, beginnend mit der Unabhängigkeit im Jahre 1921. Später hat uns Europa dabei unterstützt, aus einem Zustand der Unbeweglichkeit herauszufinden – hin zu allgemeiner Prosperität. Unsere wichtigste Freiheit kam in Gestalt des erfolgreichen Belfaster Friedensprozesses. Vielleicht sind es auch die Erinnerungen an die Gewaltjahrzehnte in Nordirland, die uns davon abhalten, wieder auf die Straße zu gehen. Aber es ist vor allem etwas anderes.

Wenn wir auf die Ära des “Keltischen Tigers” zurückschauen, sehen wir eine unwürdige Zeit der prall gefüllten Taschen, die wir lieber vergessen würden. Dennoch war diese flüchtige Wohlstandserfahrung wichtig. Sie erlaubt es uns, viele unserer uralten Ängste abzuschütteln – die postkolonialen Stimmungsschwankungen, die gewagten Gesten der Selbstbehauptung, das Gefühl der Isolation. Die Tiger-Jahre haben dafür gesorgt, dass wir uns besonders fühlten, weil wir ebenbürtig werden konnten. Plötzlich war es eine gute Sache, Ire zu sein. Wir sind so erwachsen und selbstbewusst geworden, dass wir die Königin von England nach Dublin zum Tee einladen konnten. Wir trinken unser Bier, ohne uns von der Historie das Gespräch verderben zu lassen, und wir haben aufgehört, auf dem Heimweg aus dem Pub Rebellenlieder zu grölen.

Bestimmt gibt es noch viele andere subtile Aspekte, an denen sich zeigt, wie wir uns als Volk verändert haben. Vielleicht ist die letzte Phase unserer Revolution ein grundsätzlicherer Wandel unserer Gesellschaft, der es uns erlaubt, unsere Kinder ohne das Erbe der Wut aufzuziehen. In der Vergangenheit gab es in unseren Institutionen und in unseren Familien viel versteckte Grausamkeit, die ebenso sehr die Quelle unserer Wut gewesen sein mag wie die äußeren politischen und ökonomischen Verhältnisse.

. . . Vielleicht war es in unserer Gesellschaft ja schon immer vorhanden, jenes unberechenbare, sprunghafte Verhalten. Jetzt, so scheint es, befreien wir uns von der patriarchalischen Repression innerhalb der Familien, indem wir uns der Wahrheit öffnen, statt instinktiv auf das nächstbeste Ziel einzuschlagen.

. . . Vielleicht haben wir die Wut, diesen “quecksilbrigen” Teil von uns, endlich hinter uns gelassen.”

Es lohnt sich Hugo Hamilton´s Beitrag hier in voller Länge zu lesen:  “Wir grölen und wir schlagen nicht mehr”

Hugo Hamilton wurde 1953 als Sohn eines irischen Vaters und einer deutschen Mutter in Dublin geboren. Er arbeitete zunächst als Journalist, bevor er Kurzgeschichten und Romane veröffentlichte. Als DAAD-Stipendiat lebte und arbeitete er 2001/2002 ein Jahr lang in Berlin. Mit seinen Erinnerungsbänden “Gescheckte Menschen” (dt. 2004) und “Der Matrose im Schrank” (dt. 2006) erregte er auch in Deutschland Aufsehen . 2007 erschien sein Reisetagebuch auf den Spuren Heinrich Bölls “Die redselige Insel” und zuletzt der Roman “Legenden” (dt. 2008). 2004 erhielt er in Paris den “Femina-Preis” für ausländische Literatur. Hugo Hamilton lebt mit seiner Familie in Dublin.