Auf dem Friedhof statt inmitten der Touristen-Ströme

Auf dem Friedhof statt inmitten der Touristen-Ströme

Du kennst Irland nicht, solange du keinen Platten hattest

Eine deutsche Suche nach dem wahren Irland

von Claudia Koppe *

Sie rief mich. Lange. Laut. Die grüne Insel hatte mich bereits vor Jahren in ihren Bann gezogen. Wild. Taff. Rau. Schon von weit weg haben Bilder und Videos ausgereicht, um mich zu faszinieren. Also war es nur eine Frage der Zeit, auch real auf der Insel zu sein. Also setzte ich meinen Fuß das erste Mal auf irischen Boden.Von da an hatten nicht nur das Land, sondern auch die Menschen mich gefesselt und eine tiefe Liebe begann. Von meinem ersten Besuch an, versuchte ich, das wahre Irland zu entdecken und nicht die Scheinrealität, die Touristen geboten wird. Ich wollte in die irische Lebenswelt eintauchen, die Menschen hinter den Attraktionen kennenlernen, die für die Besucher der Insel geboten werden. Ich versuchte, mich frei von irischen Klischees zu machen. Und so hielt ich mich fern von Touristenströmen, bevorzugte zum Lunch einen Salat auf einem ruhigen Friedhof und mied die Pubs mit den Musikern vor Mikrophonen und Lautsprecherboxen. Doch nach zahlreichen Aufenthalten fiel mit es mir vor zwei Wochen auf: Ich kannte Irland nicht wirklich, bis ich einen Platten hatte.

Ich wollte sein wie die Iren – nicht wie die Touristen
Trotz Flugangst stieg ich als gestandene Frau von 33 Jahren 2012 das erste Mal in ein Flugzeug mit dem Reiseziel Dublin. Ich müsste jetzt mühsam in meinen Kalendern zusammenzählen, wie oft ich seit diesem Tag in Irland gelandet bin. Nach anfänglichen Autotouren über die Insel habe ich inzwischen ein Stamm-Apartment, das fast mein zweites Zuhause ist; ein kleiner irischer Hund hat mir mein Herz ein zweites Mal gestohlen und – aller guten Dinge sind drei – ein irischer Mann mein Singledasein beendet.

Ich ahnte schon, dass ich immer noch den Touristenblick inne hatte, als ich das erste Mal das Apartment am Ring of Kerry bezog, um zwei Wochen nichts anders zu tun, außer zu schreiben, zu wandern und abends den Pub zu besuchen. Und ich hatte recht. Zum ersten Mal fielen mir die vielen Busse auf, die arrogant fast in der Mitte der engen Straße den Ring herunter donnern. Sie haben Angst, ihre Seiten aufzukratzen, hieß es abends im Pub. Ich sah die Straßenkünstler, die Galerieinhaber, die Geschenkeboutiquebesitzer, die auf den großen Parkplätzen auch im Nebel auf die Busse warteten, um etwas zu verkaufen. Die Läden waren voll, die Schlangen an der Kasse lang, die Kühltheke von Touristen verstellt, die die Produkte ganz genau beäugten. Eine Durchfahrt durch Städtchen dauerte endlos lange. Ich gestehe: Die Fülle der Touristen nervte mich.

Touristenbus an der Galway Bridge in Kerry

Gleichzeitig freute ich mich wie ein kleiner Schneekönig, als mich die ersten entgegenkommenden Fahrer grüßten – ich saß allein im Wagen und konnte ja somit kein Tourist mehr sein. Ich wurde auf Englisch über den besonderen Platz gelobt, den ich mir erneut hoch auf einer Halbinsel über dem örtlichen Dorffriedhof am Meer zum Schreiben auserwählt hatte, und lächelte nur herzlich, als ich den Lobenden kurze Zeit später neben seinem Auto mit Hallenser Kennzeichen wieder traf. Meine Vermieterin gestand mir eines Tages, dass sie und ihr Mann bei meiner ersten Reservierung dachten, ich sei ein Mann. Schließlich kam noch nie eine Frau allein. Ich wurde im Shop wiedererkannt, ich sah Lämmer zur Welt kommen, ich wurde immer herzlicher willkommen geheißen und am liebsten nicht mehr zurück nach Deutschland gelassen.

Mit geöffneten Augen: Ein zweischneidiges Schwert
Und nach drei oder vier Aufenthalten sah ich das Dilemma, in dem vielen Iren stecken – das mir beim Umherreisen vorher nicht aufgefallen war. Sie leben auch vom Tourismus. Im Sommer sind die Pubs so voll, dass die Musiker eben die Mikrofone und Boxen brauchen. Die Iren selbst gehen eben in dieser Zeit in den weniger bekannten Beach Pub, genießen dort nur kurz ein Pint (zu meinem Erstaunen oft kein Guinness, denn das sei ja Essen und Trinken zugleich), bevor sie früh verschwinden. Denn am nächsten Tag ruft die nächste Bootstour mit Touristen schon früh am Morgen. Vermieterin Eileen geht gar nur sonntags in den Pub, da ist gar keine Musik. Eileen reinigt und betreut Ferienhäuser und treibt die Farm um, daneben hat sie in der Hochsaison keine Zeit für ausgedehnte Pub-Besuche.

Jolinda, die gestrandete Südafrikanerin im Appartement über mir, fand schnell Arbeit im Imbiss im Dorf, der nur im Sommer öffnet. Der Arbeitsalltag meines Freundes dehnt sich bis tief in den Abend aus. Und dann schrillt der Alarm für die Seeretter an einem Sonntagnachmittag. Ein Angler war ins Wasser gefallen. Neben dem Sieg von Kerry im Football war dies Thema Nummer eins im Pub, bevor die Touristen ihn übernahmen.

Das nächste Mal laufen wir wieder zusammen, verabschiedete mich Eileen, da ich am nächsten Tag wieder fliegen musste. Dann ist es wieder ruhiger. Oh, wie auch ich mich darüber freute. Doch ich sah inzwischen ein, dass es abseits der Touristen und ihrer Hochsaison kein wahres Irland gibt. Denn auch die vollen Straßen, Pubs, die vielen Boote, die überfüllten Läden, die arrangierten Touren, die inszenierten Vorführungen und auch die Musik hinter Mikrofonen, statt gemütlich in der Ecke im Winter – all das gehört auch zum wahren Irland. Es ist das Leben der Menschen, die ich lieben gelernt habe und die mich auch in ihr Herz geschlossen haben.

Finally: Der Platten
Und was hat es nun mit dem geplatzten Reifen auf sich? Dieser platzte kürzlich an meinem Abreisetag. Ich hatte mir noch ein kleines Fleckchen Erde anschauen wollen, das mir am Abend zuvor im Pub empfohlen worden war. Tourists don’t go there. Die Straße war eng, ein Stein am Rand zu spitz. Ein lauter Knall und ein Zischen verrieten mir das Malheur. Ich schaffte es noch zum Parkplatz des Caravanparks um die Ecke. Kaum angehalten kamen drei Arbeiter auf mich zu, mit dem Angebot, den Reifen zu wechseln. Ihres und auch das Angebot von den Touristen aus Cork lehnte ich freundlich ab, denn ich hatte längst den neuen Mann an meiner Seite angerufen und wollte ihm diese Heldentat nicht nehmen.

In einem anderen Land hätte ich wahrscheinlich ewig warten müssen, bis mir jemand geholfen hätte. Aber eben nicht in Irland. Nur zehn Minuten später konnte ich das Buch aus dem Shop abholen, das Nachbar Liam mir freundlicherweise für den Flug hinterlegt hatte und mit dem Ersatzreifen zum Flughafen starten. Dort musste ich nur ein Formular ausfüllen, statt wie in Deutschland drei und freute mich über die Einfachheit. Ich stieg mit einem Lächeln in den Flieger, die Worte meines Freundes zum Abschied hallten nach. Nächstes Mal habe ich wieder mehr Zeit, denn die Touristen sind dann weg und wir sind wieder unter uns. Ist es das nun, das wahre Irland? Ich weiß nur, dass dies mein Irland ist. Das machte mir der Platten klar.

Und es war der erste geplatzte Reifen meines Lebens. Unter uns!

Claudia KoppeDie Autorin Claudia Koppe sagt von sich: “Claudia ist mein Name. 36 mein Alter. Schreiben meine Leidenschaft. Fernsehen ist mein Beruf. Irland ist meine Liebe sowie ein neues und doch vertrautes Zuhause.”

Fotos: Markus Bäuchle (2), privat (1, unten)

“Es gibt keine Touristen, nur Freunde . . .” : Ein paar Gedanken zum Touristen in uns allen.