Eine irische Geschichte von Marie-Louise Lagger*

Friedhof im Nebel im County Kerry

Es begann schon langsam zu dämmern. Es war ein düsterer Novemberabend. Es nieselte leicht und die feuchte Kälte drang verletzend bis ins Knochenmark. Die Lichter der nahen Stadt verloren sich im dichten Nebel, der alle Geräusche zu verschlucken schien. Ich war auf dem Weg nach Hause. Ich war damals eine junge Frau, knapp 18 Jahre alt und reiste seit drei Monaten durch Irland. Da ich Friedhöfe liebe, hatte ich mich entschlossen, den Weg entlang der Grabstätten eines sehr alten Friedhofs zu wählen.

Geschichten verlorener Leben wurden von alten Grabsteinen erzählt. Ich vergaß ein wenig Raum und Zeit. Ich war alleine auf dem Friedhof. Langsam, tief in Gedanken versunken, setzte ich einen Fuß vor den anderen und kam schliesslich zu einem großen, für Irland eher ungewöhnlichen Grab. Es glich mehr einer Gruft, und ein grosser Grabstein lag auf dem Boden. Die Inschrift ließ sich nicht mehr entziffern. Wind und Wetter haben sie verschwinden lassen. Plötzlich riss mich ein schleifendes Geräusch aus meinen Träumen. Hatte sich da eben dieser alte Grabstein bewegt?

Geschichten aus dem Glen, IrlandIch scheuchte den Gedanken fort wie eine lästige Fliege und war gerade dabei weiter zu gehen, als das Geräusch diesmal klar zu hören war. Ich blieb wie versteinert stehen. Der Grabstein, der vor mir lag, bewegte sich tatsächlich. Ich hielt den Atem an. Nun öffnete sich das Grab. Ich hatte auf einmal das Gefühl, als könnte ich mich nicht mehr bewegen. Da stand ich nun, an einem düsteren Novemberabend, irgendwo in Irland und fühlte mich sehr allein. Aus dem Grab stieg ein alter Mann. Sein Haar war weiss und wild, seine Augen waren schelmisch, sein Mund lächelte verschmitzt. Er trug eine abgetragende Hose und einen Kittel, dessen beste Tage längst der Vergangenheit angehörten. Er stand da und sah mich an. Dann verwandelte sich sein Lächeln in ein schallendes Lachen.

Das war nun wirklich zuviel. Ich wollte schreiend davon rennen, doch die Füsse schienen wie festgewurzelt zu sein und kein Ton kam aus meinem Mund. Ich starrte auf den lachenden alten Mann und begann langsam, aber sicher an mir zu zweifeln. Der alte Mann schien die Situation in vollen Zügen zu geniessen. Er streckte die Hand aus und sagte: “Ich bin nicht tot. Ich bin auch kein Geist. Ich wohne in diesem Grab, schon viele Jahre lang. Ich habe mir meine Wohnstätte gemütlich eingerichtet. Möchtest Du eintreten und eine Tasse Tee mit mir trinken? Weisst Du, es ist recht friedlich auf diesem Friedhof. Tagsüber habe ich hin und wieder unverhofften Besuch und nachts traut sich eh niemand hierher. Wenn ich einmal sterben werde, muss ich keine Beerdigung bezahlen und kann zuhause bleiben, bis an das Ende dieser Zeit.”

Irgendwann erwachte ich aus der Erstarrung. Langsam schien das Leben wieder in mich zurück zu kehren und ich holte tief Luft. Der alte Mann vor mir war vertraünswürdig und liebenswert. Keine Gefahr schien von ihm auszugehen und er war lebendiger als mancher, den ich in meinem jungen Leben getroffen hatte. Ich reichte ihm die Hand und stieg für eine Tasse Tee hinunter in sein Grab. Es war wirklich gemütlich. Da stand eine kleine Pritsche mit bunten Kissen, ein Tisch mit einen Stuhl und ein kleiner Kocher in einer Ecke. Bücher lagen aufgestapelt auf dem Boden. Eine kleine Gaslampe verbreitete ein warmes Licht. Wir hatten eine angeregte und vergnügte Unterhaltung und tranken genüsslich eine Tasse süssen Tees.

Nach einer Weile machte ich mich lächelnd und unheimlich berührt auf den Heimweg. Noch heute denke ich manchmal an den Mann im Grab zurück. Ich werde ihn nie vergessen.

* Marie Louise Lagger lebt seit dem Jahr 2006 im County Mayo in der Nähe von Westport, Irland. Die Schweizerin kennt Irland seit ihrem ersten Besuch im Jahr 1980. Seitdem ging ihr die Grüne Insel nicht mehr aus dem Kopf. Heute trotzt sie der massiven Rezession in der Wahlheimat mit  Optimismus.

Foto: Markus Bäuchle 2011