Küstenwache / Foto wikimedia

Die irische Küstenwache kämpft den Kampf gegen den Suizid / Foto: wikimedia

Der orange-farbene Helikopter kreist wieder. Langsam dreht er seine Runden, von unten sieht es aus, als würde er Pirouetten drehen, in Zeitlupe. Bevor ich ihn sehe, kann ich ihn hören. Die scheppernden Rotoren erinnern an Donner-Grollen. Mit beiden Händen schirme ich meine Augen ab, um ihn zu sichten. Die Abendsonne blendet.

„Ist das ein Rettungshubschrauber?“ frage ich meinen Freund, der ebenfalls mit zusammengekniffenen Augen in den Himmel starrt. „Sie suchen einen jungen Mann, der gestern von der Weir Bridge gesprungen ist. Wahrscheinlich ist er ertrunken. Ist schon der zweite diese Woche“. David zeigt auf eine Gruppe junger Leute, die leuchtend gelbe Westen tragen: „Die suchen ebenfalls, sie suchen jeden Zentimeter ab zwischen Salthill und der anderen Seite der Bay, bis hinüber nach Fanore.“

Die jungen Leute gehören der Initiative Galway Suicide Watch an, die seit 2014, als an einem Maiwochenende fünf Menschen hier in Galway ihrem Leben ein Ende bereiteten, regelmäßig die Küsten absuchen, um Vermisste zu finden. Die Leichen werden zunächst von der Strömung abgetrieben Richtung offenes Meer und tauchen nach Tagen oder Wochen wieder irgendwo am Ufer der Galway Bucht auf.

Ich schaudere. Ich möchte hier draußen keinesfalls eine Leiche entdecken. Krimis lese ich gerne, aber jene Leichen bleiben zwischen den Seiten gefangen, sie begegnen mir nicht beim abendlichen Spaziergang mit Hund. Trotzdem kann ich nicht anders, als meinen Blick über den Strand in Ballyvaughn wandern zu lassen. Wie schrecklich für die Angehörigen nicht zu wissen, was mit dem Sohn, der Tochter oder der Freundin geschehen ist. Haben sie wie durch ein Wunder überlebt?

Wohl kaum. Wer an der Weir Bridge in Galway oder an einer anderen Stelle in den Corrib springt, wird von der Wucht des aus dem Corrib-See abfließenden Wassers mitgerissen und geht unter. Das Weir bremst das Wasser, dennoch rauschen 28.000 Liter pro Sekunde Richtung Galway Bay. Ein todsicherer Sprung. Der Corrib ist der kürzeste Fluss der Insel. Weniger als fünf Kilometer lang.

Im März und April diesen Jahres suchten drei junge Menschen hier in Galway den Tod, zwei Männer und eine junge Frau. Seitdem fallen mir die Aufkleber auf, die der Samariterbund an Laternenpfähle, Geländer, Sitzbänke und Hinweisschilder klebt: Call first, dazu eine Notrufnummer. Seitdem schweift mein Blick bei Ebbe immer wieder suchend über den Strand und die Küstenlinie.

Friedlicher Abend Ballylaughan Beach / Foto A. Weik

Friedlicher Abend Ballylaughan Beach / Foto Andrea Weik

Das ist eine der Geschichten, die ich meinen Gästen nur ungern erzähle, wenn ich auf einer Tour mit Feriengästen durch Irland bin. Wieviel Wahrheit vertragen Touristen auf ihrer Urlaubsreise? Wann – wenn überhaupt – wird das Bild vom glücklich lächelnden, rothaarigen Iren getrübt? Wie passt die Nachricht, dass Irland eine hohe Suizid-Rate aufweist – besonders unter jungen Menschen – in das Bild des Guinness trinkenden Paddy oder des Rebellenlieder singenden Trad-Musikers? Wie passt es zu dem leicht dahin gesagten „Wie können sich die Iren ein so schönes Haus auf dem Land leisten, wo sie doch unter den Rettungsschirm mussten?“

Sie passt nie, weder im Urlaub noch zuhause. Realität drängt sich einfach auf, sie fragt nicht. Irland ist im Umbruch. Der Weg vom „ärmsten Land Europas“ über die Celtic-Tiger-Wohlstandsjahre und den darauffolgenden wirtschaftlichen Zusammenbruch hin zum modernen, aufgeklärten und wachsenden Multikulti-Land, in dem inzwischen sogar gleichgeschlechtliche Paare heiraten dürfen, ist steinig. Manchen Iren und Irinnen schaffen es nicht, die Steine aus dem Weg zu räumen – wie früher die Bauern auf ihren kargen Feldern im Westen der Insel. Manchen jungen Leute hier sehen auch keinen Weg um die Steine herum und können sie auch nicht überspringen. Stattdessen springen sie ins Wasser, ob in Galway, Limerick oder Cork.

Als ich kürzlich mit einer Gruppe Urlauber am Corrib entlang spazierte, der Uferweg von der Kathedrale zum Spanish Arch ist besonders reizvoll, begegneten wir einer Gruppe von Soldaten. In Tarnkleidung und ausgerüstet mit Rucksäcken. “Was tun die hier?” fragten mich die Gäste. „Sie suchen nach einem Kameraden, einem jungen Mann der nach einem Discobesuch verschwunden ist. Wahrscheinlich ist er ertrunken.“ Tage später las ich in der Lokalzeitung, dass seine Leiche entdeckt worden war. Letztes Wochenende stießen wir beim Spaziergang auf ein kleines Kreuz am Uferrand mit dem Namen und dem Bild des verstorbenen Soldaten. Er hatte einen Abschiedsbrief hinterlassen.“