Sie singen sich ihre Trauer vom Leib: Heute stellt Patrick Steinbach im Irish Music Corner die traditionelle alte Art des Singens in Irland vor — Sean Nós, den gälischen Solovortrag.

SEAN NÓS

Sean Nós Sänger im Pub

Sean Nós-Sänger im Pub

Es gibt etwas, das es wohl nur in Irland (und im gaelischsprachigen Schottland) gibt. Zumindest habe ich es noch nirgendwo anders erlebt oder davon gehört. Es ist eine ureigene alte irische Tradition, für die es noch nicht mal einen englischen oder gar deutschen Namen gibt. Auf gälisch heißt es Sean Nós. Einfach übersetzt bedeutet es: die alte Art, der alte Stil — in diesem Fall die alte Art des Singens.

Es gehört zu den ureigensten und ältesten Arten des gesungenen Solovortrages. Selber erlebt habe ich es zum ersten Mal Mitte der 80er Jahre in einem Pub in Donegal. Inmitten einer gemütlichen Pubrunde stand ein älterer Mann auf und fing urplötzlich an zu singen. Ohne Begleitung, ganz alleine. Augenblicklich verstummte der gesamte Pub und lauschte dem gälisch singenden Mann. Es war ein Ausflug in die Vergangenheit. Ich verstand kein Wort, wusste aber automatisch, dass ich hier Zeuge von etwas ganz Besonderem war.

Als der Mann fertig gesungen hatte, ging ich zu ihm und fragte ihn nach dem Titel des Songs. Er sagte mir, dass er sich die Zeilen eben selber ausgedacht hatte, überkam ihn doch ein spontanes Gefühl der Trauer, welches sich ein Ventil im Singen suchte. Die stille Gemeinschaft der Zuhörer war ihm Trost und Gewissheit. Ohne Netz und doppelten Boden konnte er über seine Gefühle singen, und alle hörten ehrfürchtig zu. Welch wunderbare Kultur des Aufgehobenseins. Welch wohltuendes und selbstregulierendes Ritual von Menschen, die sonst große Schwierigkeiten haben, über ihre Gefühle zu reden. Sie singen sich ihre Trauer vom Leib. Was könnten wir hier wohl von den Iren lernen?

Selbstverständlich darf man einen solchen Vortrag nicht stören. Tiefer Respekt vor einer alten Tradition und dem persönlichen Empfinden verlangt nach Demut und Ruhe. Niemals darf man Sean Nós messen an den üblichen Standards, mit denen wir sonst Musik konsumieren. Es sind persönlichste und intimste Darbietungen, die nicht nach Intonation, Stimmfestigkeit und Metrum beurteilt werden dürfen. Es sind lebendige Geschichten einer leider wohl bald aussterbenden Art, ähnlich des irischen Storytellings.

Hier ein sehenswertes Video:

Patrick Steinbach MusikerDer Autor von Patricks Music Corner: Patrick Steinbach (*1964) arbeitet als Dozent für Gitarre, er ist Herausgeber zahlreicher Lehrwerke zur irischen Musik und schreibt seit 2001 für das Musikfachmagazin AKUSTIK GITARRE. Dort stellt er alle zwei Monate ein neues Stück aus Irland vor, das er für Gitarre bearbeitet hat. Neben Konzertberichten veröffentlicht er regelmäßig CD-Rezensionen zu Bands aus dem irischen Kulturfeld. Für sein Engagement erhielt er 2005 den Deutschen Musikeditionspreis. Patrick lebt in Neu-Isenburg. Mehr über Patrick gibt es auf seiner Website zu lesen:  www.patrick-steinbach.de