Tory IslandEin Bericht von Sandra Böttcher

Irland und ich – eine Begegnung, aus der vom ersten Augenblick an eine feste Beziehung wurde. Heute erinnere ich mich gern zurück an Irlands Nordwestküste – und im Besonderen an den Besuch einer vorgelagerten Insel, die wie losgerissen ist vom Festland…

Tory Island liegt im Norden von Irland, 10,5 km vor der Küste von Donegal im Atlantik und ist der nordwestlichste (bewohnte) Punkt der Inselrepublik.

Markant und obligatorisch der Leuchtturm, die weißen Häuser von „East Town“ und „West Town“, das an der südlichen Hafenbucht, etwa in der Mitte der Insel liegt. „Oileán Thoraigh“, Tory Island, ist so „irisch“ wie es nur geht. Es wird munter gälisch gesprochen, der traditionelle irische Tanz Céilí noch kräftig praktiziert und mit Freude gepflegt.

Die irische Regierung wollte Mitte der 70-er Jahre des letzten Jahrhunderts Tory Island (wie auch viele Inseln überwiegend vor der Westküste, etwa die Blasket Islands) entvölkern, um nicht für die Schul- und sonstige Versorgung aufkommen zu müssen. Es gab weder Strom noch Kanalisation oder fließendes Wasser.

Die etwa 160 Bewohner von Tory blicken nun aber mit großem Stolz auf ihre Siedlungsgeschichte und die Mythen der Insel zurück.

Das hatten die hinter dem Meer sitzenden Verwaltungsfunktionäre einfach vergessen, als sie die Insulaner in den 1970er Jahren auf das Festland umsiedeln wollten. Der Widerstand war massiv und man ließ die Finger davon…

Ganz vorneweg im Geschichten erzählen ist übrigens „König“ Patsy Dan Rodgers. Der Regent der Insel ist hauptberuflich Künstler und dem Vernehmen nach ein ganz passabler Musiker. Zudem ist er eine lebende Legende und die Attraktion der Insel schlechthin. Er versucht nach wie vor, jeden Gast der Insel persönlich zu begrüßen, allerdings schafft er es so gut wie nie, rechtzeitig an der Fähre zu sein. Heute ist er mal in Schottland unterwegs… Schade!

Tory Island Irland

Als erstes Wanderziel steuere ich den Landzipfel an der Ostküste an. Es wird felsiger, kahl. Die Sonne setzt sich zunehmend durch, der Wind bläst ordentlich, zerrt an Jacke und Haaren.

Beherzt wage ich einen Blick über den Rand der steilen Felsenküste und auf die tiefen Buchten. Die Wogen schlagen hoch und zerschellen an dieser gigantischen, vor mir liegenden Felsenwand, die steil nach Norden ragt. Ein ungeheuerliches und faszinierendes Schauspiel, das man ewig anschauen könnte. Die Klippen ringsherum, durchfurcht von Rinnen und Kerbungen, beherbergen riesige Möwenkolonien, daneben gibt es etliche weitere Vogelarten zu bewundern. Ein Paradies für Ornithologen. Es ist einmalig, hier draußen die Kraft und Wildheit der Natur anzusehen. Unweigerlich kommt mir der Gedanke: Hier bin ich am Ende der Welt, hier geht es nicht weiter.

An solchen Plätzen und mit Blick über die Unendlichkeit des Meeres spüre ich förmlich, wie klein der einzelne Mensch ist. Zeit zum Genießen – und Nachdenken!

 

Felsen auf Tory Island

Wie es wohl ist, auf Tory Island zu leben, dieser Bastion gegen die Moderne? Nicht einfach, soviel steht fest – und entbehrungsreich allemal. Hier bestimmen Wetter und Fahrplan der Fähre über den Alltag und das Leben der Bewohner. So wurden beispielsweise im Winter 1974 die Menschen auf der sturmgepeitschten Insel auf eine besonders harte Probe gestellt. Ganze acht Wochen lang war die Insel durch einen Orkan vom Festland abgeschnitten. Nicht einmal Hubschrauber konnten landen. Es gab genug Einheimische, die den Atlantik damals wegen seiner Grausamkeit verfluchten. Zermürbt entschlossen sich zehn Familien nach dem Sturm, Tory Island den Rücken zu kehren. Doch inzwischen sind einige gebürtige Insulaner zurückgekehrt. Mit dem Leben auf dem Festland konnten sie sich nicht anfreunden!

Reisebericht Tory Island

Ein von Salzgischt gegerbtes Gesicht blickt mich an: Unterwegs treffe ich einen knorrigen Insulaner, wir kommen ins Gespräch und er berichtet gleich unverblümt, dass hin und wieder berüchtigte Stürme mit bis zu 200 Stundenkilometern über den Atlantik toben. „Dann kommen wir hier tagelang nicht weg. Der Orkan reißt Dächer ab und Türen aus der Verankerung“, erzählt der betagte Mann. Unermüdlich schöpft der redselige Einheimische weiter aus seinem Vorrat von Geschichten, baut Erinnerungen aus seinem Inselleben ein. Ich bin mir sicher: Hier leben Menschen ihre Traditionen weiter. Ich würde gern länger verweilen und den Erzählungen lauschen, auch wenn ich große Mühe habe, dem harten Dialekt zu folgen. Zu guter Letzt erwähnt der Inselmann, dass Bäume auf Tory nicht gepflanzt werden, zu groß sei die Gefahr, von einem entwurzelten Stamm getroffen zu werden. Dafür findet man knallrote Bänke zum Rasten und Schauen!

Bank auf Tory Island

Zurück zum Rauschen des Meeres und dem Ruf der Möwen, ich schlendere in Richtung Hafenbucht. Jetzt mal ganz bewusst und intensiv den Wind spüren, die Seeluft riechen. Der Blick auf das weite Meer hat eine seltsame Anziehungskraft, eine Verzauberung, der ich für längere Zeit erliegen könnte. Es liegt ein Frieden in der Landschaft, der mich beim Betrachten tief berührt. Eine wunderbare Gelegenheit, im Hier und Jetzt zu unendlicher Ruhe zu finden. Zeit nehmen zum Staunen. Das sind Momente von enormer Intensität. Ich bin froh, diese Augenblicke nun in meinen Erinnerungen zu haben!

Boot auf Tory Island

Weiter geht es zum westlichen Teil von Tory Island. Die Insel ist übrigens sehr klein – von Ost nach West sind es etwa vier Kilometer, breit ist das Eiland teilweise nur einige hundert Meter. Der etwas lieblichere Westen mit Wiesen und Wollgrasfeldern lädt noch einmal ein zum Innehalten und Träumen. Hier kommt beides auf: Das Gefühl von Heimat und Fernweh, die Sehnsucht, sich anderswo neu zu erleben, aber auch machtvolle Einsamkeit. Es hat etwas von vollkommener Freiheit – und dennoch überkommt in mir das befremdliche Gefühl von ungewohnter Abgeschiedenheit und Isolation.

Wollgras am Atlantik

Was machen die Insulaner nun, wenn im Spätherbst die letzten Touristen abreisen, wenn sie wieder unter sich sind? Viel bleibt dann nicht zu tun. Aber genau das ist differenziert zu betrachten. Man widmet sich der Malerei und der Musik, veranstaltet kulturelle Zusammenkünfte. Mir wird klar: Vieles wird hier sicher nicht so persönlich genommen, nicht so gerannt wie andernorts. Begriffe wie Leistungsgesellschaft und Hektik oder Konsumproblematik finden keinen Gebrauch. Bei den Inselbewohnern kommt es auf Zusammenhalt, Bescheidenheit und die Beschränkung auf das Lebensnotwendige an. Man lebt die Verbundenheit und Gemeinschaft auf eigene Art und Weise.

Die Inseln Irlands

Am späten Nachmittag auf der Fähre kommt ein wenig Wehmut auf, wohl auch deshalb, weil der „Monarch“ des Inselvolkes an diesem Tag nicht hier war – und ich auf den traditionellen Begrüßungskuss verzichten musste! Ich bin nicht sicher, ob das entlegene Inselleben etwas für mich wäre, weit weg vom (zugegebenermaßen) gewohnten Komfort. Vermutlich muss man dafür und dort geboren sein…

Was bleibt, ist eine tiefe Bewunderung für die Menschen, die sich für diese Lebensweise entschieden haben – oder keine Wahl hatten. Ich verneige mich still vor ihnen.

Fähre Tory Island Irland

Beim Schreiben dieser Zeilen erinnere ich mich an ein Buch, das alsbald gelesen werden möchte:

Thomas O`Crohan
„The Islandman“
von Tomas O’Crohan (1857-1937, Fotos), ins Deutsche übersetzt von Annemarie und Heinrich Böll: „Die Boote fahren nicht mehr aus“.

Der Bauer und Fischer von der Großen Blasket-Insel am äußersten Westrand Irlands erzählt von gewagten Meeresfahrten und Jagden, von Festen mit Spiel und Trunk, von bitterem Hunger, wenn der Fischfang missglückt. O’Crohan wollte der Nachwelt den Charakter der knapp 150 Inselbewohner schildern, „denn Leute wie uns wird es nie mehr geben“.

Tomas O'CrohanNatürlich frage ich mich, wie es wohl damals war, als es nur um Elementares ging, um Brot und Fische, um Kartoffeln und Torf, um Leben und Tod. Wenn die Männer, meist Nichtschwimmer, in ihren offenen Booten durch die schwere Brandung zu den Fels-Höhlen der Großen Blasket-Insel ruderten, um Robben zu fangen. Nur mit Knüppeln bewaffnet…

Ich werde es nachlesen. Gut, dass mit diesen Aufzeichnungen den nachfolgenden Generationen ein Ausschnitt irischer Sozial- und Kulturgeschichte erhalten bleibt.

 

Alle Fotos: © Sandra Böttcher