Liebe in Irland

Eine wahre irische Geschichte von Marie-Louise Lagger

Sie war keine Schönheit. Er war fürchterlich scheu. Ihre Häuser wurden von einer Straße getrennt. Oft stand er hinter dem Vorhang seines Wohnzimmers und beobachtete sie, wie sie im Garten arbeitete, Wäsche aufhing oder einfach vor seinem Haus vorbei ging. Er traute sich nicht, sie anzusprechen.

Irgendetwas musste geschehen, dachte er sich. Eines Tages nahm er all seinem Mut zusammen und schrieb ein kleines Briefchen, reichte es einem Schuljungen und bat ihn, indem er ihm ein paar Süßigkeiten zusteckte, das Schreiben seiner Angegebeten zu überreichen. Er gebot dem Jungen auch, niemandem etwas davon zu erzählen. Es sei nämlich ein Geheimniss.

Der Bub war so glücklich über die Süßigkeiten, dass er gleich davon rannte. Das bange Warten begann. Unser junger Mann konnte nicht mehr essen, nicht mehr schlafen und nicht mehr denken. Keinem hatte er von seiner Verliebtheit erzählt. Seine Freunde machten sich dauernd lustig über die ausgesprochene Hässlichkeit seiner Auserwählten. Um sich nicht selber zum Gespött zu machen, schwieg er einfach.

Es dauerte ein paar Tage, bis der Junge mit einer Antwort zurück kam. Mit zitterenden Händen öffnete der Mann das Schreiben und begann mit bangem Herzen zu lesen. Ein Lächeln trat auf sein Gesicht und seine Augen begannen zu leuchten. Sie fühlte wie er. So entstand eine rege Korrespondenz zwischen den Beiden. Die Briefchen flogen hin und her und der Schuljunge hatte das Gefühl, es sei Weihnachten und Ostern zugleich. Er erhielt so viele Leckereien, dass er sich überlegte, diese zu verkaufen.

Leider hatten sich die beiden schüchternen Verliebten nie zu einem Rendezvous durchringen können. Nach ein paar Monaten jedoch, sagte sich der junge Mann: “Nun ist es wirklich Zeit, dass ich sie endlich einmal treffe.” Aber wie sollte er dies anstellen? Dieses Ereignis würde sicherlich nicht unbeobachtet bleiben und dann würde er zum Gelächter des ganzen Ortes. Auch konnte er ihr nicht sagen, wieso er sich nicht mit ihr traf. Er wollte sie doch nicht verletzen. Wie sehr er sich auch anstrengte, es schien keine Lösung in Sicht.

Um in eine andere Stadt zu fahren, fehlte den Beiden das Geld, und in der Umgebung war ein Treffen zu auffällig. Eines Nachts, als er wieder schlaflos in seinem Bett lag, kam ihm der rettende Gedanke. In der nächsten Zeit war er nur noch selten zu sehen. Er ging nach getaner Arbeit in seinen Schopf und schien da vor sich her zu werkeln. Seinen Freunden sagte er, dass er Renovationsarbeiten durchführen müsse. Niemand fand dies eigenartig. Man hörte ihn hämmern und sägen. Nachts, wenn alles schlief, führte er Erde mit seiner Schubkarre zum nahen Bach. Dies dauerte ungefähr einen Monat. Eines Abends rief er den Schuljungen zu sich, gab ihm ein letztes Briefchen und drückte ihm eine besonders große Tüte Bonbons in die Hand.

Der Junge lief los und er begab sich zurück in sein Haus. Er zog seinen besten Anzug an und polierte seine schwarzen Sonntagsschuhe. In seinen Händen hielt er ein Blumensträusschen. Er begab sich zu seinem Schopf und ward verschwunden. Seine Geliebte stand aufgeregt hinter einem Busch in ihrem Garten und wartete. Plötzlich rief eine Stimme ihren Namen. Sie drehte sich um, konnte jedoch niemanden sehen. Die Stimme schien aus dem Boden zu kommen. Sie erschrak fürchterlich. War es ein Geist, der da rief?

Sie drehte sich suchend um und sah auf einmal das Gesicht ihres Geliebten im Busch. Er streckte ihr die Blumen entgegen und bat sie, ihm zu folgen. Sie lächelte, reichte ihm die Hand und folgte ihm. Hinter dem Busch kam eine kleine Treppe zum Vorschein, welche in eine Art Stollen unter der Erde führte. Sie konnte es einfach nicht glauben. Ihr Geliebter hatte tatsächlich einen Tunnel unter der Strasse zu ihrem Haus gegraben, um sie zu sehen. Beide verschwanden sie in ihr Liebesnest.

Dies ist übrigens eine wahre Geschichte. Sie hat sich in den 70-er Jahren irgendwo im streng katholischen Irland tatsächlich ereignet. Die beiden schüchternen Liebenden sind nun seit über 40 Jahren verheiratet. Längst gehen sie Hand in Hand durch den Ort und verstecken sich nicht mehr. Die Menschen, die das Tunnel-Geheimnis heute kennen, erzählen sich immer wieder gerne diese zu Herzen gehende irische Love Story.

Geschichten aus dem Glen, Irland

 

* Marie Louise Lagger lebt seit dem Jahr 2006 im County Mayo in der Nähe von Westport, Irland. Die Schweizerin kennt Irland seit ihrem ersten Besuch im Jahr 1980. Seitdem ging ihr die Grüne Insel nicht mehr aus dem Kopf.