Irland LandkarteIrland ist Freiheit? Irlandnews-Leser Werner Thies kommentierte in dieser Woche den Beitrag  “Meine 11 Gründe, warum wir gerne in Irland leben”  und machte mich nachdenklich, ob mir “Grund elf” nicht bereits still und leise abhanden gekommen sein könnte. Werner schrieb:

“Ach, wir haben uns nie getraut, wirklich for good nach Irland zu wechseln. Manchmal bereue ich das. Trotzdem sind wir dort zu Hause. Wir haben dort (in Mayo) bestimmt so viele Freunde wie in Deutschland. Von den elf Gründen, in Irland zu leben, stimmen die meisten. Ja. Ja !!!  (Die Sache mit der geringeren Regelungswut scheint mir allerdings eher eine Illusion zu sein.) Was uns immer wieder wundert und inzwischen auch ein bisschen verzweifeln lässt: Die Leidensfähigkeit der allermeisten Iren. Sie werden von ihrer Regierung belogen und beschissen – und merken das nicht. Oder wollen das nicht merken. Im Zweifel ersetzen sie bei Neuwahlen nur die eine korrupte und reaktionäre Truppe durch die nächste korrupte und reaktionäre Truppe. Es ist sooooo traurig.”

Genau gezählt zieht Werner zwei Gründe in Zweifel. Betrachten wir erst einmal  “Grund 7” für ein gutes Leben in Irland:

“Weil der Staat ferner ist als anderswo. Der Einzelne hat mehr Spielraum, mehr Freiheit, aber auch mehr Eigenverantwortung als im überregulierten Vorsorgestaat. Regelwut und Perfektionismus haben hier weniger Chancen auf Realisierung.” 

Ganz ehrlich. Das Argument ist nur noch ein gefühltes und faktisch nicht mehr zu halten:  Der Staat ist immer noch weit, wo er gestalten und unterstützen könnte. Er ist allerdings dort sehr nahe gerückt, wo er abkassieren, gängeln und überwachen kann: Gülleloch-Gebühr, Wasser- und Abwassergebühren, Grundbesitz-Steuer, die Lizenz zum Führen eines Auto-Anhängers, Straßenschilder-Wahn für jeden Feldweg, Wohnsitzregistrierung, Überwachungskameras an jeder zweiten Ecke, und dann vor allem, was im Namen von “Gesundheit und Sicherheit” (Health & Safety) an Gängelungspotential daher kommt. Vor ein paar Wochen habe ich für die Irland Edition (Ausgabe 20 / 2013) diese Kolumne zum Thema Sicherheitsmaßnahmen und Gängelungs-Staat Irland geschrieben:

 

Im Namen der Sicherheit

 

Vor drei Tagen fuhren wir mit dem Motorboot über wilde Atlantikwellen hinüber nach Skellig Michael. Der ein oder andere Mitreisende zeigte im Gesicht leichte Verfärbungs-Erscheinungen ins Grünliche. Der Kapitän jedoch, ein alter irischer Seebär, kultivierte die Wortkargheit ins Extreme. Er fuhr seine Menschenladung absolut wortlos zum Felsenkloster, kein Satz über Sicherheitsmaßnahmen im offenen Boot, kein Hinweis auf etwaige Schwimmwesten — geschweige denn, dass er welche ausgeteilt hätte, wie es in seinem Buch der Sicherheit steht. Wird schon gut gehen.

 Der Skellig-Skipper ist ein Stück wandelnde Vergangenheit. Das wird schon wenige Minuten später auf Skellig Michael klar. Die vom Staat beschäftigten Inselführer brennen ein Feuerwerk der Sicherheitshinweise ab und halten vor dem Aufstieg einen expliziten Vortrag über Sicherheit auf dem steilen Inselfelsen, auf dem 2009 zwei Menschen zu Tode stürzten und sich jedes Jahr Unfälle ereignen. An den schwierigsten Stellen der Himmelsleiter zieren nun Sicherheitsketten und Stangen den uralten Felsenweg.

 Gestern stieg der Briefträger fluchend aus seinem Auto, um mir die Post zu reichen: „Health and Safety is ruining this county“. Der Arbeits- und Gesundheitsschutz ruiniert dieses Land: Postman Denis darf sich ohne gelbe Sicherheitsweste nicht mehr auf die Straße trauen, am Auto muss er die Scheinwerfer ganztags anstellen, und wenn er in die Kurve fährt, soll er obligatorisch hupen.

 Im Namen der Sicherheit: In mehreren vergangenen Wintern blieben Schulen wegen Glatteis tagelang geschlossen. Schulveranstaltungen, Dorffeste und Festivals werden abgesagt, Sehenswürdigkeiten und historische Häuser bleiben geschlossen, weil die Veranstalter den Sicherheitsaufwand fürchten, weil die Versicherungssummen astronomische Summen kosten, oder weil ständig die Gefahr droht, im Schadensfall von Zeitgenossen ordentlich auf Schadensersatz verklagt zu werden. Auch erfahrene Rettungssanitäter folgen längst den offiziellen Sicherheitsvorschriften anstatt dem oft hilfreicheren gesunden Menschenverstand, um auf der sicheren Seite zu bleiben: Eine möglicherweise lebensrettende Aspirin-Tablette darf im Fall eines drohenden Herzinfarkts nicht verabreicht werden, wenn das Verfallsdatum auch nur einen Tag überschritten ist“. Der Trend geht zum gesetzes-konformen Ableben.

 Im vergangenen Frühjahr wurden im County Cork drei erfahrene Straßenarbeiter des County Council vom Dienst suspendiert, weil sie nach getaner Arbeit auf dem Rückweg von Crosshaven kurz in Carrigaline anhielten, um dort ein Schlagloch zu flicken. Ein Arbeitssicherheits-Funktionär kam vorbei, erachtete die Absicherung der Baustelle als nicht ausreichend und verpfiff die drei hilfsbereiten Arbeiter. Sie wurden vom Dienst suspendiert und erst nach längerem Gerangel und einem Reuebekenntnis eine Woche später weiter beschäftigt.

 Die irische „Health and Safety“-Behörde und sicherheitsbewusste Menschen weisen natürlich zu Recht darauf hin, dass der Arbeits- und Gesundheitsschutz in Irland bis vor kurzem völlig unzureichend war und dass mangelnde Sicherheitsmaßnahmen Jahr für Jahr allzu viele Menschen unnötig Leben und Gesundheit kosten — ein richtiges und wichtiges Argument. Längst allerdings werden im Namen der Sicherheit Freiheit eingeschränkt, Flexibilität und Effizienz untergraben und massenhaft Menschen von der Arbeit abgehalten. So hat sich Irland in den vergangenen zwei Jahrzehnten schleichend vom Paradies der allzu Lässigen und Ignoranten in einen Hort der Sicherheitsfixierten verwandelt. Die Iren eifern auch darin dem sicherheitsfanatischen Nachbarn Großbritannien nach.

 Früher kehrten Irlandurlauber nach Hause zurück und und beschenkten ihre Lieben mit einem schmucken Aran-Pullover oder einem flauschigen Fischerhemd. Angesichts der vielen Iren, die inzwischen nur noch mit leuchtend-gelben Sicherheitswesten auf die Straße gehen, kündigt sich auch in der Mitbringsel-Branche eine Trendwende an. Die neonfarbene Health-and-Safety-Weste mit Grüßen von der grün-gelben Insel ist groß im Kommen ;-)

Soweit meine Kolumne in der Irland-Edition vom Herbst 2013. Die — immer wenn sie erscheint — lesenswerte Irland-Edition, die Jan Deiters heraus gibt, kann übrigens hier bestellt werden: Irland-Edition

Das Fazit: Vom Perfektionismus bleiben wir auf der Insel weiterhin verschont, die von den europäischen Behörden induzierte und von der irischen Regierung bereitwillig exekutierte Regelungswut, treibt indes immer mehr übel riechende, hässliche und auch kostspielige Blüten. Zu Werners Klage über die schier grenzenlose Leidensfähigkeit der Iren und ihre masochistischen Neigung, sich von ihrer Regierung systematisch  “verar . . . ” zu lassen, demnächst mehr an dieser Stelle.

Einen schönen Sonntag!

Bild: Irland-Karte von Bold and Noble