Irland ist anders

Der kleine „Pass-Auf-Guide“ von Eliane Zimmermann

Wer als deutschsprachiger Irlandbesucher jemals dem Schild M gefolgt ist, um in der ‘Bio-Break’ einem Bedürfnis nachzugehen, sollte einen Rock tragen oder rosa Lippenstift oder edlen Perlenschmuck. Umgekehrt könnte es frau passieren, dass sie beim Betreten der Örtlichkeit mit dem Schild F entgeisterte Blicke vom Wandbecken erntet.

Nicht nur in dieser Beziehung sind Besucher überrascht über die meist liebenswerte Andersartigkeit im irischen Alltag. Während sich das M als mná in gälisch für ‘Frau’ und F für fír als ‘Mann’ entpuppt, gibt es doch auch Dinge, die einem wie eine Zeitreise in die Vergangenheit vorkommen. Der Retrolook ist hier keine modische Zeiterscheinung sondern Bestandteil des ganz normalen Lebens. Zumindest auf dem irischen Land, weitab der Modernität der Städte. Bleiben wird also zunächst beim Nassraum.

Duschen kann auf der Grünen Insel wesentlich länger dauern als auf dem Kontinent, vor allem wenn Seife und Shampoo abgespült werden müssen. Denn so etwas wie Wasserdruck ist in vielen irischen Bädern praktisch nicht vorhanden. Wasserhähne – auch in der Küche – zeigen oft blau für warmes und rot für kaltes Wasser und sind auch meistens wie das Lenkrad im Auto auf der ‘falschen Seite’ angebracht.

Dafür kann man mit dem Kaltwasserhahn an der ländlichen Spüle bestes Trinkwasser anzapfen, denn er fördert frisches Nass direkt aus tiefen Erdschichten. Tiefbrunnen auf Privatgrundstücken sind die Regel und nicht die Ausnahme. Ebenso die Regel sind die hauseigenen Klärgruben fernab jeglicher Kanalisation, welche verbieten, dass unorganische Abfälle ins Klobecken geleert werden. Der bewusste Umgang mit den schnell verstopfenden Rohren wird dem Nachwuchs schon bei den ersten kindlichen Sitzungen gelehrt.

Geheizt wird im ländlichen Irland vielerorts noch immer mit Torf, zumindest in Häusern, wo auch in den Celtic-Tiger-Jahren an die Installation einer Ölheizung nicht zu denken war. So prasseln an feucht-kühlen Herbst- und Wintertagen vielerorts wunderbar duftende peat-Barren in den meist viel zu kleinen Feuerstellen. Klar , man darf es eigentlich nicht mögen, denn Torfabbau ist Raubbau an der Natur, und dennoch verbreitet ein Stück brennender Torf eine schöne Atmosphäre. Für so richtig kuschelige Wärme in den traditionellen Steincottages reicht das freilich nicht. Aber sie reicht aus, um die darüber hängende Unterwäsche und wettergegerbte Flanellhemden, die beim Besucher leicht romantische Anwandlungen auslösen, zu trocknen. So halbwegs zumindest.

Denn ein ganz spezieller liebenswerter Muff-Duft wohnt den meisten Gebäuden inne. Wie sollte es auch anders sein bei achtzig und mehr Prozent. Nur die ganz Reichen leisten sich Glühbirnen oder gar spezielle Heizvorrichtungen in ihren Kleiderschränken. Die Neureichen überdecken dieses vermeintliche Manko seit einigen Jahren mit literweise eingesetzten Weichspülern. Der penetrante Geruch dieser Kleiderparfüms durchmischt sich in Kirchen und Klassenzimmern mit Rauch- und Muffnoten und sorgt für einen unverwechselbaren Raumduft.

Der Einsatz von Feuchtigkeitsspendern an Heizkörpern oder gar von stylischen Verneblern erübrigt sich also, vielmehr versucht jeder mit etwas Geld in der Tasche, ein oder zwei Trockengeräte im Haus laufen zu lassen, damit weder Atemwege noch Mobiliar allzu sehr strapaziert werden.

Das feuchte Nass von oben hält die Inselbewohner übrigens eher selten von Outdoor-Veranstaltungen ab. Erste Tropfen bei der Feld- oder Gartenarbeit werden komplett ignoriert, leichter Nieselregen stört weder Spaziergänger noch Bauarbeiter, etwas Regen verscheucht weder Kinder noch Lehrer vom Schulhof. Sogar Schlammschlachten auf Fußball- oder Sportplätzen gehören zum irischen Familienalltag, die zahlreichen Sommer-Festivals finden unabhängig von Wetterkapriolen statt.

Viele Häuser, die in den Jahren des vermeintlichen Geldsegens zahlreich und schnell gebaut wurden, werden ihren zehnten Jahrestag nicht erleben, da das kompostierende Nass innen und außen an ihnen nagt. Viele dieser zarten Konstruktionen stehen leer; sie waren entweder nie bewohnt oder mussten aufgrund von Schuldenbergen geräumt werden.

Apopros zart. Wärmeisolierung an Gebäuden ist eine eher neue Errungenschaft und wirklich professionell wird sie auch kaum irgendwo ausgeführt. Warum auch, es gibt ja kaum längere Frostperioden. Das galt zumindest bis zum Winter 2009, der den Inselbewohnern ganz überraschend die eiskalte Schulter zeigte. Ein Jahr später kühlte Väterchen Frost die Inseltemperatur sogar noch mehr herunter. Was die Zukunft bringt, bleibt abzuwarten.

Wünscht man als ‘blow-in’ (Zugereister) dennoch Dämmmaterial und Fachexpertise, wird man lange suchen müssen und ergibt sich dann meist in die ortsüblichen Bau-Gepflogenheiten. Gleiches gilt für Schalldämmung, deren Wert noch nicht sehr weit in das Knowhow des Baugewerbes eingezogen ist. Schrittgeräusche, Stimmen und musikalische Einlagen erhöhen eher den Gemütlichkeitswert eines irischen Heimes: Man ist nicht alleine, kein Angehöriger des Volkes der ‘little people’, also der Elementarwesen, an die noch einige Iren glauben, wird einem also etwas antun können.

Über Putz, außen an den Hauswänden, befinden sich übrigens die Abwasserleitungen und viele Zuleitungen, welchen man bisweilen auch beim Grasmähen begegnet. Kurioserweise entstand deswegen in und nach den eiskalten Wochen Wasserknappheit und es kam sogar zu Wasserrationierungen. Die Leute hatten einfach die Wasserhähne tage- und wochenlang offen gelassen, um das Wasser am Fließen zu halten; denn laufendes Wasser gefriert weniger schnell und lässt die dünnen Rohre nicht so schnell platzen.

In der Mini- Eiszeit von 2009 bis 2010 wurde dem Kontinentaleuropäer auch bewusst, dass es auf der Insel die Institution des Winterreifens nicht gibt, zumindest nicht flächendeckend. Selbst wenn man seinem Fahrzeug freiwillig welche anschnallen möchte, ist das kaum möglich, denn man kann die Dinger nicht mal eben so im Reifencenter erstehen. Auch früher gab es schon mal glatte Straßen in den Morgenstunden oder in beschatteten Kurven. Als guter Ire bleibt man dann winterbedingt einfach zu Hause, und sogar Arbeitgeber scheinen Verständnis für die unfreiwillige Pause auszubringen.

Noch etwas zu Haus und Garten: Dem Besucher fällt auf, dass die meisten eher neuen Wohnhäuser auf betonierten und von viel Asphalt umgebenen Plattformen stehen. Ob diese das Gefühl widerspiegeln, dass man endlich in der Zivilisation angekommen ist? Dass einem das stets wuchernde Grün nicht mehr gnadenlos auf die Pelle rücken kann, dass die frühjährlichen Buschfeuer einem nichts mehr anhaben können? Die pflegeleichten Bodenplatten scheinen sowas wie ein Statussymbol der letzten zwanzig Jahre geworden zu sein, am besten wirken sie, wenn noch drei oder vier Autos drauf stehen.

Vielleicht will sich Paddy mit der Asphalt- und Beton-Platte auch einfach nur die wilden Tiere vom Hals halten: Etwa die irischen Mini-Mücken, die sich gerne im Grass aufhalten. Eine nette, durchaus menschenfreundliche Angewohnheit haben diese von Mai bis August nervenden Mücken (midgets), die bei bestimmten dämmerigen Lichtverhältnissen auf blutige Futtersuche gehen, zugegeben auch: Sie piesacken einen nur draußen, denn sie zeigen keinen großen Drang in die Wohnräume. Es sei denn, man reißt abends alle Fenster auf und schaltet die Scheinwerfer taghell ein. Das unterscheidet sie erheblich von den kontinentalen Blutsaugern.

Vom Thema Futtersuche kommt man schnell zu Essen und Trinken: Fleisch ist zwar nur bei ausgewählten Sonderangeboten deutlich billiger als auf dem Kontinent, dennoch ist es das Hauptnahrungsmittel der meisten Iren. Eine Köchin erklärte uns auf unseren Wunsch nach mehr Salat verwundert, dass man ihr das normalerweise als künstliches Verlängern oder Strecken der Portionen vorwerfen würde. Zudem lernten wir, dass es Pastagerichte erst seit circa einem Vierteljahrhundert auf der Insel gibt und dass das Essen von Reis bei vielen Familien noch zu den ganz exotischen Abenteuern gehört.

Die wahren Abenteuer der Ernährung bestanden in den Jahren des ungebremsten Konsumrausches dagegen aus möglichst viel Fett, reichlich Farb- und Aromastoffen und Zucker satt. Langsam zwar, jedoch stetig scheint etwas Gesundheitsbewusstsein zurückzukehren. Jenes gab es früher eher unfreiwillig, denn noch vor fünfundzwanzig Jahren war das Angebot eher schmal und man lebte von dem, was die Insel reichlich bot: Kartoffeln, Grünkohl, Karotten, Äpfel, Birnen, vollkorniges Sodabread, Spiegelei und andere eher rustikale Leckereien.

Keine Betrachtung der grünen Insel wäre vollständig, ohne den lässigen Umgang mit der Zeit zu erwähnen. Pünktlichkeitsfanatiker reiben sich bisweilen verwundert die Augen, wenn sie zehn Minuten vor einem Konzertbeginn, fünf Minuten vor Unterrichtsstart, drei Minuten vor dem Fußballtraining alleine auf weiter Flur stehen. Die Uhren gehen hier sympathisch anders, Abfahrts- und Abholstress kennen insbesondere Eltern kaum, die Spezies der Frühaufsteher findet sich noch nicht einmal unter Bäckern, Handwerkern oder dem Müllabholpersonal. Warum hetzen, wenn es auch gemütlich geht, heißt die Devise und selten fällt deshalb einmal eine Veranstaltung oder ein Projekt ins Wasser. Fast akribisch pünktlich fahren allerdings die Busse kreuz und quer durch das Land, was sehr angenehm ist, da das öffentliche Verkehrsnetz nicht durch hohe Fahrfrequenzen auffällt.

Kommen wir zum Shopping: Kürzlich in einem großen Kaufhaus am Rande der zweitgrößten Stadt Irlands, Cork: Eine deutsche Frau möchte den freien Tag zum seltenen Shopping nutzen und sich die Garderobe etwas aufhübschen. Nicht dass sie zu einer exklusiven Boutique pilgern möchte, auch das Angebot im schicksten Kaufhaus in der Innenstadt passt nicht so recht zum Landleben mit Tieren und Blumenerde. Einfach mal wieder eine bequeme Hose war angesagt, vielleicht so eine wie letztes Jahr bei derselben Kaufhauskette. Doch die Ästhetik der komplett durchwühlten und auf den Kopf gestellten Damenabteilung wirkt sich mal wieder nur positiv auf den Spartrieb aus. Andererseits: Warum eigentlich so penibel sein, warum muss alles so aufgeräumt sein, so durchgestylt, so germanisch-perfekt?

Es geschieht häufig in unserem Alltag, dass kontinentaleuropäisches Ästhetikempfinden und irische Lässigkeit aufeinander treffen und unsere Toleranzgrenzen weiten und verschieben. Kein Ire dreht sich um, wenn Bauer Paddy mit lehmverschmierten Gummistiefeln zum Gottesdienst erscheint, keine Irin rümpft die Nase, wenn Nachbarin Mary ihr Kind im verbeulten SchlafTrainingsanzug von der Schule abholt. Versabbelte Krawatten regen hier niemanden auf, ungeschminkte Gesichter sowieso nicht. Mindestens ein Riss in der Zimmerwand gehört irgendwie zu jedem Haus dazu, genauso die drucklos tröpfelnde Dusche, die flackende Glühbirne, der quietschende Fußboden. Kreischende Farb-Zusammenstellungen an Hausfassaden, riesige Blumenmuster an Gardinen oder Bettwäsche, Plastikblumen an Fenstern, auf Gräbern und auf Restaurant-Tischen sind oft so skuril, dass sie schon wieder etwas Künstlerisch-Originelles an sich haben.

Wildwuchs vor der Haustür wird genauso wenig wie unsortierte Wäscheberge in Wohnzimmer-Ecken als “eyesore” (Augenschmerz) empfunden. Weder Frittengeruch an der Kleidung noch ein gewisser Muff-Mief  in Gebäuden fällt sonderlich unangenehm auf.

Farblich, gestalterisch und auch menschlich gibt es auf dem Land in Irland also viel Toleranz und damit auch viel Freiheit. Beides wirkt ungemein befreiend auf die Seele. Es muss nicht alles perfekt sein, auch krumm gebaute Wände schützen vor Regen, auch eine schrecklich bunt-geblümte Jacke hält warm. So what!

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