Die Abosch-.Kartoffel: Symbol des obszönen Reichtums der sogenannten Elite

Die Abosch-Kartoffel: Symbol des obszönen Reichtums der sogenannten Elite

Irischer Sonntag: Nachdenken über Gewalt. Auch Irland hat seine aktuelle Gewalt-Debatte, allerdings diskutieren die Irinnen und Iren derzeit nicht über Silvester, sondern über Vorkommnisse, die 100 Jahre zurück liegen. Nach dem Wohlstands- und Bau-Rausch wirft sich das Land mit voller Wucht in einen auf sieben Jahre geplanten Erinnerungs-Rausch: Die erste wirklich große Station auf dem Kreuzweg zur Unabhängigkeit war der Osteraufstand von 1916. Am 24. April 1916 stemmte sich ein schlecht organisiertes Häufchen irischer Republikaner in Dublin gegen die britische Besatzungsmacht, besetzte das Postamt  und einen öffentlichen Park und rief mal eben die freie irische Republik aus. Nach sechs Tagen war alles vorbei, viele unbeteiligte Zivilisten hatten ihr Leben verloren, und die Aufständischen wurden hingerichtet.

Irlandnews.comDie Bevölkerung hatte den Kämpfern von 1916 kein Mandat gegeben, und die große Mehrheit hatte mit dem Aufstand nichts am Hut. Zum nachhaltigen Erfolg wurde der Osteraufstand erst, weil die radikalen Republikaner um Pearse und Connolly Hut samt Kopf verloren: Durch die Hinrichtungen, weil sich die Briten ihre rachsüchtige Reaktion nicht verkneifen konnten und Märtyrer schufen. So steht 1916 heute als Beginn der Unabhängigkeit Irlands, als Zeugungs-Moment des modernen Irland gewissermaßen. Mit über 2000 Veranstaltungen will das offizielle Irland die 100. Wiederkehr der gewalttätigen Genese zelebrieren. So wie die Iren ihre schmerzhaften Niederlagen mit Verve und Inbrunst feiern, so feiern sie nun die Oster-Gewaltorgie von Dublin — auch eine große Niederlage, allerdings eine, die das Tor zur Freiheit öffnete.

Leuchtreklame Irland 2Wirklich? Nur einzelne Stimmen widersprechen dem offiziellen Mantra und meinen, es sei falsch, die chaotische Inszenierung von Ostern 2016 in den Mittelpunkt des Erinnerns zu stellen. Mehr noch: Die Unabhängigkeit wäre auch auf friedlichem Weg erreicht worden. Das allerdings ist eine steile These, die auch heute neue Gewalt-Phantasien nährt . . . Ich habe sie dieser Tage in einem Gespräch nur zitiert. Reaktion: Die örtliche Buchhändlerin, stolze Tochter eines republikanischen Freiheitskämpfers, wäre mir fast an die Gurgel gesprungen. Nur dieser dünne, fast durchscheinende Puffer, den wir Kultur nennen, hielt sie davon ab . . .

Fadenscheinig. Wie dünn diese Schicht Kultur zwischen den menschlichen Abgründen und einem kollektiven zivilisierten Verhalten ist, beobachten wir seit Anfang des Jahres aus der Ferne. Das polare Klima, das sich in kürzester Zeit in Deutschland aufgebaut hat, wirkt zumindest in 2000 Kilometern Entfernung recht furchterregend. Rassismus, Hass und Intoleranz sind offenichtlich innerhalb kürzester Zeit wieder hoffähig geworden, und auch die vermeintlich Friedfertigen lassen sich nun allzu leicht die Wahl der Waffen bestimmen. Ein Land im Würgegriff der Angst — und die Aller-Ängstlichsten sind die, die derzeit pöbelnd und drohend durch die Straßen ziehen und uns eine Vorstellung davon geben, wie es in den Zeiten von Weimar zugegangen sein muss . . .

Es stimmt, was der Philosoph Wolfgang Eilenberger dem SPIEGEL kürzlich sagte:

“Wir sind am Ende der zentralen Lebenslüge einer ganzen Generation von Europäern angelangt. Ich bin jetzt 43 Jahre alt. Wie viele andere habe ich mir vorgemacht, das konkrete Leid, das in den Ländern des Nahen Ostens, Asiens und Afrikas den Alltag von Milliarden Menschen prägt, ließe sich für die kommenden Jahrzehnte lebensweltlich auf Distanz halten. Wir hegten die Illusion eines Kerneuropas als mauerloser Paradiesgarten in einer Welt des Elends. Damit ist es vorbei.”             

Wir müssen zudem zugeben, dass wir Europäer unseren enormen Wohlstand auch auf dem Elend im Rest der Welt gegründet haben und dass uns die eigene Vergangenheit nun auch in dieser Hinsicht einholt. So gilt es wohl Abschied zu nehmen von unserem harmonischen Bild einer demokratischen Wohlfühl-Gesellschaft am vermeintlichen Ende der Geschichte. Manche sagen, frei nach Sepp Herberger: Nach dem Krieg ist vor dem Krieg  —  die schauderhafte Ahnung, dass wir uns längst in einer Art von neuem Welt-Krieg befinden, lässt sich nicht einfachso abschütteln. Der politische Klimawandel sorgt zumindest für anhaltende Kälte in Europa und in der ganzen Welt.

Abschalt-Krise. In der Insellage Irlands könnten wir uns weit von den aktuellen Welt-Problemen entfernt fühlen. Wir nutzen das stunden- und tageweise: Eine kleine Medien-Diät, Fernseh-Nachrichten aus, Zeitung weg, Internet abschalten — und schon bestimmen die Sonne, der Regen, der Wind und die Gezeiten des Meeres den Rhythmus des Lebens am Atlantik. Durchatmen — und schon könnte ich meinen, dass die kleinen Probleme die großen Probleme sind: Vergangene Woche entdeckte ich in unserer kleinen Stadt  den Sündenfall: 800 Jahre trotzten die Iren nicht nur den Engländern sondern auch der Leuchtreklame. Als Kontinental-Europäer bestaunen wir die idyllischen irischen Dörfer und Städtchen bis heute mit wohligem Gefühl. Die Abwesenheit schreiender Werbung löst Entzücken aus, wir fühlen uns in Ruhe gelassen von all denen, die nur an unser Geld wollen. Tatsächlich dominiert traditionelles Schreiner- und Maler-Handwerk bis heute die Geschäftsstraßen auf der Insel: Die handgestaltete und gekonnt mit dem eigenen Schriftzug bemalte und ganz dezent beleuchte Shop-Front bestimmt das Straßenbild.

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Das Leuchten des Apothekers. Doch nun sorgt ausgerechnet der Apotheker im Ort für den Tabu-Bruch in der Streetscape: Er hat eine im schnellen Stakkato leuchtende und blinkende Multimedia-Orgie über seiner Tür installieren lassen. Grün, Rot, Blau, Kreuz, Schlange, Öffnungszeit, Sonderangebot — so muss es einmal am Times Square angefangen haben. Es heißt, dass die Apotheken die computergesteuerten Fassadenmonster nach einem Masterplan über das ganze Land verbreiten wollen — wahrscheinlich im Namen von Sicherheit und Gesundheit; und es wird garantiert nicht lange dauern, bis viele andere Ladenbesitzer in den Dörfern und Städtchen auch so eine großartige, moderne Reklame haben wollen. Bald werden helle Licht-Dome im Nachthimmel über den Irish Towns den Großen Wagen, den Drachen, den Fliegenden Fisch, den Kleinen Bären, die Kassiopeia und das Siebengestirn der Plejaden vertreiben . . .  Cassiopeia good-bye.

Leuchtreklame Irland 3Die Kartoffel des Bösen. Da wir gerade bei der Astronomie sind: Der irische Fotograf Kevin Abosch (46) kassiert für seine begehrten Fotos astronomisch hohe Summen: Der bei den Schönen und Reichen angesagte Abosch berechnet seiner wohlhabenden und geltungssüchtigen Klientel pro Foto um die 150.000 US-Dollar. Wer von Kevin kommerziell genutzte Fotos anfertigen lässt, ist ab einer halben Million dabei. Jetzt hat der Mann mit dem goldenen Auslösefinger den Vogel, Verzeihung, die Kartoffel abgeschossen:  Das Foto von einer Kartoffel auf schwarzem Hintergrund ging laut IrishCentral für 1 Million Dollar, das sind 900.000 Euro, an den neuen stolzen Besitzer.

Jetzt wissen wir zumindest, warum auch der fotografierende Ire Kevin Kartoffeln liebt — und wir verstehen tief, was obszöner Reichtum bedeutet: Während einige Milliarden Menschen auf der Welt Tag für Tag um ihre Existenz und um ein Leben in minimaler Würde kämpfen, wissen die Happy Few nicht wohin mit der Kohle. Die Abosch-Kartoffel illustriert aufs Absurdeste die Tatsache, dass 62 Menschen auf der Welt mehr besitzen als die ärmere Hälfte der Menschheit. Wer sehnt sich da nicht den nächsten Osteraufstand herbei, eine Art globales Kartoffel-Gericht im Namen der Gleichheit, Gerechtigkeit, Brüderlichkeit . . .    

Jetzt fragt sich nur noch, ob die Sache mit der Gewalt, mit den Flüchtlingen und dem Reichtum der Wenigen irgendwie nicht doch zusammen hängt?

In diesem Sinne einen friedlichen Sonntag und eine friedliche Woche. Der Wanderer