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7:11 Uhr. Irland wacht langsam auf. Ein kühler heiterer Morgen zieht auf. Heute gibt es Fußball-Wetter. Wir fahren in die Hauptstadt Dublin zum Fußball-Match. EU-Qualifikation, die Deutschen kommen. und für Irland muss heute ein Sieg her, sonst sieht es schlecht aus mit der Qualifikation. Der deutschen Mannschaft reicht ein Unentschieden zur Qualifikation für die EM 2016 in Frankreich. Das fiel mir heute morgen zu unserer Reise ein:

:: Die Fahrt von unserem Wohnort in Glengarriff im äußersten Südwesten der Insel nach Dublin ist heute unter vier Stunden zu schaffen. Noch vor wenigen Jahren mühten wir uns sechs bis sieben Stunden in die Baile Atha Cliath und versuchten, diese Fahrt wann immer möglich zu vermeiden.

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:: Bis vor acht Jahren gingen die Menschen in Dublin an die Lansdowne Road zum Fußballschauen. Nun mag der Name einer alten Besatzer-Familie auch nicht gerade in jedem Ohr Wohlklang erzeugen, aber ich hoffe, dass wir die Zeit bald überwinden werden, da wir es für selbstverständlich halten, die Namen unserer öffentlichen Einrichtungen und Plätze meistbietend und gewinnmaximierend an verantwortungslose Multinationals zu verscherbeln. Diese Orte bedeuten uns mehr als nackter Profit. Lang lebe das Hamburger Volkspark-Stadion. Aviva Stadium: Es klingt wie ein Offenbarungseid, dieses größte Fußball- und Rugby-Stadion in Irland nach einem Verunsicherungs-Konzern  zu benennen. Wir fahren deshalb auch heute an die Lansdowne Road — immerhin trägt die Straße in Dublin, an der das Stadion liegt, immer noch diesen Namen. (Im Jahr 2017 läuft der 44 Millionen Euro schwere Aviva-Namens-Vertrag für das Stadion aus).

::  Das “neue” Lansdowne selber kenne ich schon, wir besichtigten das leere Oval kurz nach der Eröffnung im Sommer 2010. Der Nachfolgebau des alten Lansdowne Road-Stadions, das von 1872 bis 2007  da irisches Zentrum der Fußball-Leidenschaft war, bietet knapp 52.000 Menschen Platz. Mit Glasfassade, Stahlkonstruktion, Kunststoff-Dachhaut, mit 10.000 Premium-Sitzplätzen, 50 Funktionsräumen in den Katakomben und 1300 Plätzen in sogenannten VIP-Lounges für die Vermeintlich Wichtigen  (VW), ist das neue Stadion an der Lansdowne Road das erste irische Elitestadion der UEFA-Kategorie 4. Wir werden irgendwo ganz oben im Stahl-Gebälk mit Blick auf die Stadt sitzen und uns Mühe geben, die entscheidenden Szenen unten auf dem Rasen nicht zu verpassen.

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:: Genau  das nämlich passierte mir beim letzten Länderspiel-Besuch vor über 30 Jahren im Basler Sankt Jakob Stadion. Die Schweiz spielte gegen die Dütschen, und kaum hatte ich mich ein wenig in der illustren Fan-Gemeinde umgesehen, war schon das erste Tor gefallen. Jubel, Klatschen, ich hatte es verpasst und mein überrumpeltes Hirn verlangte nach der Zeitlupe. Tja, die gab es damals nicht. Doch dank moderner Stadion-Technik sollten kurze geistige Absenzen heute eher drin sein. Die Jubel- oder Schemerzensschreie der anderen sollten als Signal ausreichen, um noch rechtzeitig genug den Einspieler auf der Videowand zur Kenntnis zu nehmen. (Man sagt ja ohnedies, dass man wegen der Stimmung und dem Massen-Feeling ins Stadion geht. Wer sich für die Feinheiten des Ballspiels interessiert, studiert diese besser in HD auf der heimischen Fernsehwand.)

:: Die Fan-Massen, die heute Schal-schwingend und Field-of-Athenry-singend die Kulisse für Irland-Deutschland abgeben, werden nicht darüber hinweg täuschen, dass Fußball auf der Insel lediglich der drittbeliebteste Ballsport ist. Ich bin mir nicht mehr sicher, ob Gaelic Football noch immer das unangefochtene Lieblingsspiel der Iren ist. Denn Rugby wird in Irland Jahr für Jahr populärer und hat 2015 nach dem erneuten Gewinn der Six Nations im vergangenen Jahr einen neuen Höhepunkt erreicht. Die Iren beherrschen den harten Ballsport der einstigen Besatzer von der Nachbarinsel längst besser als deren Erfinder — und derzeit kämpfen die Boys in Green fernab ihres Home-Pitches Lansdowne Road in England um den Weltmeister-Titel. Während Gastgeber England bereits in der Vorrunde die Segel gestrichen hat, steht Irland bereits im Viertelfinale des Welt-Turniers, das noch bis Ende Oktober dauert.  Vermutete Popularitäts-Rangfolge der Sportarten in Irland heute: Platz 1: Rugby und Gaelic Football / Hurling. Platz 3: Fußball (Soccer).

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Wie auch immer. Bleibt die Frage, für wen mein Herz heute abend schlägt. Für Irland? Für Deutschland? Für ein gutes Spiel? Wie empfindet ein Deutscher, der seit 15 Jahren freiwillig in Irland lebt? Wenn heute abend die Boys in Green gegen Jogis Buben kicken, kämpfen in mir wahrscheinlich Herz gegen Verstand: Denn eigentlich ist heute nichts überholter, ranziger und beschränkter als nationalstaatliches Denken. Eigentlich. Doch eigenartig: Der Sport spricht wohl tiefer liegende Bewusstseins-Schichten an, die Vernunft des überzeugten Europäers wird wieder einmal kläglich vor dem auf vollen Touren schlagenden heißen Fan-Herz kapitulieren: Tschörmany, Tschörmany – mach ihn rein, Müller!!!