Belfast

Belfast. Foto: NITB

9. November 1989. Zum Tag des Mauerfalls stellt die Autorin Petra Dubilski ihren ganz persönlichen Zusammenhang zwischen einer irischen und einer deutschen Stadt her: Belfast und Berlin. Die Berlinerin zog im Jahr 1997 von Berlin nach Belfast und lebt heute im ländlichen County Clare im Westen Irlands.

“Als ich im April 1997 von Berlin nach Belfast zog, fragte mich so mancher meiner alten Freunde (Berlin) und neuen Bekannten (Belfast): Warum Belfast? Warum von einer (ehemals) geteilten Stadt in die nächste noch geteilte?

So ganz genau wusste ich das auch nicht, außer dass ich damals Belfast nach insgesamt über zweimonatiger Recherche-Reise auf der grünen Insel für den spannendsten Ort in Irland hielt – und noch halte. Aber um nicht weiter von solchen Fragen genervt zu werden – und als Party-Lacher – und auch um psychologischen Tiefgang zu vermeiden, antwortete ich stets: „Ach wisst ihr, ich vermisse die Mauer in Berlin.“ Das hat die Diskussion dann schön abgewürgt.

Seither habe ich hin und wieder in meine schwarze Seele geschaut, um herauszufinden, warum Belfast für mich die logische Konsequenz zu Berlin war.

Vor genau 25 Jahren, am 9. November 1989, saß ich abends nach Redaktionsschluss mit Kolleginnen und der Chefredakteurin unserer kleinen linken Zeitung im Café Adler direkt am Checkpoint Charlie. Wir tranken Wein und diskutierten über journalistische Frauenpower oder dergleichen. Einer unserer Fotoreporter trabte rein, und verkündete trocken: „War gerade auf der Pressekonferenz im Osten, die wollen die Mauer öffnen.“ Und trottete wieder vondannen, um seine Fotos zu entwickeln.

Wir schüttelten nur den Kopf. Männer! Müssen auch alles übertreiben.

Dann geschah es. Menschen auf der anderen Seite des Schlagbaums wurden immer mehr und immer lauter, auf unserer Seite (Westen) sammelte sich nach und nach auch immer mehr Volk an, wir natürlich gleich voran, wir waren ja schließlich Journalistinnen. Es lag eine Elektrizität in der Luft, die bis heute unbeschreiblich ist, Grenzsoldaten der DDR hinterm Schlagbaum waren verwirrt und wussten nicht was tun, politische Miesepeter (Westen) kündigten an, dass das alles in einer Katastrophe enden würde, andere meinten, dass der Kommunismus tot sei. Wir alle tranken vor dem Schlagbaum unseren Wein weiter und diskutierten Theorien – wie es Westberliner eben taten.

Den Menschen jenseits der Grenze war jede Ideologie egal: Und dann öffneten sich die Schlagbäume – und der Rest ist Geschichte. Es war die in jeder Beziehung aufregendste Nacht meines Lebens, einschließlich der folgenden Wochen. Mittendrin in einem historischen Moment zu stecken ist berauschend, macht einen klein und sprachlos und doch stark und zugehörig zu einem größeren Ganzen, was immer das sein mag.

Über die nächsten Jahre kehrte ein westdeutscher Alltag in Berlin ein. Eine Ernüchterung, dass unsere kleine Widerstandswelt, die Insel im „roten“ Umland, das Paradies der Aussteiger und Alternativen, die Stadt der 1000 Möglichkeiten, weil sie nicht den Regeln des geordneten westdeutschen Daseins unterworfen war, nun wirklich perdü war. Der ganz normale Kapitalismus und die ganz normale westdeutsche Kleingeistigkeit zog ein.

Vermisste ich die Mauer? Natürlich nicht. Aber ich vermisste den Ausnahmezustand, den Westberlin vor dem Mauerfall hatte. Ich vermisste das Verbotene, das Fremde in der eigenen Stadt, die unterschwellige Gefahr, das Subversive, wenn man, wie ich, Verwandte in Ostberlin hatte und das erleichterte Gefühl, von Westdeutschland nach Hause über die Autobahn ab Helmstedt zu fahren und kurz vor meiner Stadt den Abzweig „Westberlin“, nicht West-Berlin, zu sehen. Nicht zu vergessen diesen Turm unterwegs mit der Neonschrift „Plaste und Elaste aus Schkopau“, ein Zeichen, dass es bald bis in den „Westen“ geschafft war.

Berlin also wurde für uns Westberliner Alt-Spontis langweilig, auch wenn die Wiedervereinigung einer geteilten Stadt eine zeitlang unglaublich spannend gewesen war. Irgendwie.

Und dann kam Belfast. Als ich das erste Mal in die Stadt kam, fühlte ich mich sofort zu Hause. Nicht, weil ich irgendeine Mauer zu sehen bekam – die sind in Belfast ja eher diskret und mit der Berliner Mauer nun gar nicht zu vergleichen –, sondern weil hier genau das prickelnde Gefühl herrschte, im Ausnahmezustand zu leben.

Nirgends begegnete ich so vielen oddballs, Menschen, die gleichermaßen beschädigt, wie auch lebensfroh und einfallsreich waren, auf jeden Fall nicht ins bürgerlich saturierte Schema passten. Die Belfaster waren meine neuen irischen Mittänzer auf dem Vulkan, meine Ersatz-Berliner.

Und wieder landete ich in einem historischen Moment. Es war die Zeit der stillen Friedensdemos vor dem prachtvollen viktorianischen Rathaus, über die die Weltpresse nicht berichten mochte. Belfast ist ja noch immer eher beliebt für Kriegsberichterstattung – schön sicher und schön romantisch für Schreibtischjournalisten. Wer kann schon Artikel über Friedenswünsche verkaufen?

Es war die Zeit, als hinter den Kulissen die Friedensverhandlungen liefen, als ganz Belfast den Atem anhielt, die Zeit, als die letzten britischen Soldaten auch durch meine Straße liefen, als niemand wusste, wie die Verhandlungen ausgehen würden: Es könnte, wie einst an der Berliner Mauer, zu neuen Gewaltausbrüchen kommen, es könnte aber auch zu einem dauerhaften Frieden führen.

Eine spannende Zeit, und ich erinnere mich auch sehr gut, dass ich ein Jahr nach meinem Umzug nach Belfast in jener Nacht des Karfreitags-Abkommens in Belfast vor dem Rathaus stand und auf einen Freund wartete, der dort beschäftigt war. Es dauerte Stunden, bis er auftauchte (und kein Café Adler weit und breit), aber anders als in Berlin, gab es keine große Party, nur einen tiefen Seufzer der Erleichterung durch die ganze Stadt.

Berlin ist befriedet, Bundeshauptstadt, durch und durch kapitalistisch und gecapuccinot und gelattet. Eine Art preußische Mischung aus München und Bonn. Finde ich gut, aber ist nicht mein Berlin.

Belfast hingegen ist noch immer Belfast. Es gibt noch eine Mauer, im irischen Bestreben nach historischer Größe und in Verkennung historischer Tatsachen oft als „Berlin Wall“ bezeichnet, aber eher ein Lattenzaun mit Durchgängen, über den Berliner nur schmunzeln können.

Aber ähnlich wie vielleicht auch noch in Berlin steckt die „Mauer“ in Belfast noch sehr stark in den Köpfen. Es ist trotz all des Glanzes, der schicken Einkaufszentren, der gläsernen Vergnügungs- und Bürotürme, der spannenden Restaurantszene, des nach wie vor großartigen Nachtlebens eine Stadt, in der die Menschen noch immer auf Eierschalen tanzen – und daher vielleicht sensibler sind für seismische zwischenmenschliche Feinheiten als Berliner es je waren oder sein können.

Ich wünsche den Belfastern eine ebenso „normale“ Entwicklung, wie sie Berlin erfahren hat. Aber ich wünsche mir auch, dass mein geliebtes Belfast dieses Gefühl beibehält, das mit Kapital und Geld nicht korrumpierbar ist, dass diese Stadt zwar nicht mehr mordet, aber aus der Spannung gleicher und doch unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen eine Energie und Kreativität zieht, die Berlin aus meiner Sicht verloren hat.

Warum ich Belfast letztlich verlassen habe? Aus sehr privaten Gründen ;-) Bereue ich es? Jein …”