Wild Atlantic Way

Rush Hour in Irland: Gestern nachmittag musste ich auf einer kleinen Straße in West Cork einem mittelgroßen LKW ausweichen. Erst beim Blick in den Rückspiegel erkannte ich aus schrägem Blickwinkel am Straßengraben: Der LKW ist gar kein LKW sondern ein Monster-Wohnmobil — und der geschätzt zehn Meter lange Beweis, dass der Wild Atlantic Way wirklich ein Bombenerfolg ist. Willkommen an Irlands Westküste.

Seit die Atlantikküste vor einem Jahr von Irlands Tourismus-Vermarktern den neuen erfolgsträchtigen Namen Wild Atlantic Way verpasst bekam, ist nichts mehr wie vorher: Vor allem die Wohn-Mobilisten und die Motorradfahrer fühlen sich von der “längsten Küstenstraße der Welt”, so der Werbe-Slogan für die auf 2500 Kilometer Länge aufaddierten Straßen und Sträßchen zwischen Cork und Donegal, mächtig angezogen. Aber auch die Busse, die Kleinwagen und die Rad-Konvois bringen vermehrt Menschen in den Westen, die nach dem ewigen Atlantik, nach der intakten Landschaft, der Wildheit der Küste und des Meeres und der Reinheit des Erlebnisses suchen. Die Auswirkungen zeigen sich bereits: verstopfte Straßen, Landschaftsverbrauch, Konkurrenz um Ressourcen, Lärm, Gestank und mehr Asphalt.

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Der Wild Atlantic Way, auch wenn Kritiker den Begriff der Wildheit angesichts der vielerorts zersiedelten Landschaft als lachhaft demaskieren, ist ein Naturwunder — und das Großprojekt vermarktet konsequent die Natur für touristische Zwecke. Es ist anschwellender Öko-Tourismus der irischen Art. Ein Jahr nach Einführung des neuen Labels und kurz vor dem Start einer Kampagnen-Kopie (Ireland´s Ancient East) für Irlands Ostküste mischt sich nun erstmals Kritik in den Jubel um steigende Besucherzahlen und kommerziellen Erfolg. Es kommen ernste Fragen auf:

– Machen ein paar tausend neue Verkehrs-Schilder und eine großangelegte Werbekampagne schon ein zukunftsweisendes Konzept aus?

– Zerstört ein ungebremster Tourismus am Wild Atlantic Way nicht in absehbarer Zeit seine eigenen Grundlagen — nämlich die ebenso wilde wie zerbrechliche Schönheit der Natur?

– Wo, wie und wann verpflichten sich die Verantwortlichen in Regierung und Tourismus-Management auf den nachhaltigen Schutz der bedrohten Natur in Irlands Westen?

– Wie kann der Wild Atlantic Way zu einem ehrlichen und in seiner Beschränkung erfolgreichen Projekt des Öko-Tourismus werden? Und was haben die Menschen in der Region davon?

Die in Irlands Westen lebende Philosophin Lucy Weir hat die relevanten Fragen gerade in einem Meinungsbeitrag für die Irish Times aufgeworfen. Der lesenswerte Artikel hat die Überschrift: Wild Atlantic Way. It is big and bold, but it also needs to be sensitive and fair.  Groß und kühn sei das Projekt, doch es müsse auch einfühlsam und fair sein, es müsse die natürlichen Ressourcen schützen und den Menschen in der Region langfristig gute Arbeitsplätze und ein Auskommen sichern. Lucy Weir bringt es auf den Punkt: Etwas nur Öko-Tourismus zu nennen, macht es nicht schon zu Öko-Tourismus (Hier der Beitrag in voller Länge).

Der Wild Atlantic Way hat Irland in den vergangenen Monaten mächtig in die Schlagzeilen gebracht, und die eingängige Marke wird mit Sicherheit viele zusätzliche Gäste auf die Insel locken. Doch das Nachdenken darüber, wie der Wild Atlantic Way auch in zehn und 20 Jahren noch ein großartiges, unverdorbenes und authentisches Naturerlebnis sein könnte, hat gerade erst zaghaft begonnen.

 

PS: Wir von Irlandnews und Wanderlust werden verschiedentlich angefeindet für unsere differenzierte Haltung zum Wild Atlantic Way. Sehr schnell sieht man sich angesichts des Jubels in der Ecke des nörgelnden Kritikers. Um es klar zu sagen: Wir sind selber im Tourismus tätig und wir befürworten das Langzeit-Projekt Wild Atlantic Way. Gleichzeitig wünschen wir uns sehr, dass wir nicht gerade das zerstören, was wir so lieben, um dann bedauernd Joni Mitchell Recht geben zu müssen: You don’t know what you’ve got ’til it’s gone.  Dafür arbeiten wir.