Einen weiteren “Sexskandal” in Irland wollen die Londoner Sunday Times und in ihrem Kielwasser einige feinsinnige Blogger ausgemacht haben. Einen Sexskandal gar, der Irlands religiöse Landschaft “erschüttert”: Der exilierte tibetische Lama Sogyal Rinpoche soll sich mit Anhängerinnen fleischlichen Genüssen hingegeben haben, ist zu lesen. Ist der weise Mann, der das buddhistische Retreat Dzogchen Beara in West Cork leitet, also ein “Schweinsack” und brachte er erwachsene Frauen “gegen ihren Willen zum Sex”, wie ein Fein-Sinniger suggeriert?

Schweinsack, kann sein. Rinpoche ist zwar nicht dem Zölibat verpflichtet, er darf offiziell “Sex haben” –allerdings nicht in der Form, dass er das möglicherweise assymetrische Verhältnis zwischen Guru und Schülerinnen zum eigenen Vorteil ausnutzt. Der schillernde Tibeter, der das wichtigste Buch für Westler zum Verständnis des tibetischen Buddhismus geschrieben hat (“Das tibetische Buch vom Leben und vom Sterben”), er pflegte – wenn man den öffentlich zugänglichen Berichten Glauben schenken kann – etliche Amouren mit Anhängerinnen; sich outende ehemalige Gespielinnen sprechen von einem ganzen Harem. 1994 sah sich der West-Tibeter wegen solcher unterstellter Praktiken in den USA einer Millionenforderung ausgesetzt. Die klagende Amerikanerin, die wohl unstrittig mit Sogyal Rinpoche in den bewusstseinserweiternden Federn war, machte dies 1995 in einem außergerichtlichen Vergleich zu viel Geld. Offensichtlich hat alles seinen Preis, auch die Wahrheit. Ein Gerichtsurteil gibt es allerdings nicht.
Seitdem kann man die Geschichten vom libidinösen Lama, der Sex gegen Seelenheil versprach, um sich höchst irdisch bedienen zu lassen, in vielen Variationen auf Papier und im Internet lesen – von “Betroffenen”, auch die Versionen von institutionellen Sekten-Jägern, von zahlreichen Trittbrettfahrern und von dreckschleudernden Mitgliedern von Konkurrenz-Vereinen.*
Wenn die Sunday Times und kleine nordirische Beiboote die Vorwürfe nun im zeitlichen Abstand von mehr als einer Dekade thematisieren, um dann erstaunt einen erschütternden Sexskandal zu entdecken, dann zeugt das in Zeiten von Google von einem bemerkenswerten Informationsdefizit, das meinungsstark vorgetragen wird. Zumindest befindet man sich in bester Gesellschaft: Auch die irische Präsidentin Mary McAleese will gerade aus allen Wolken gefallen sein, nachdem die Ahnungslose Rinpoche im September 2007 noch persönlich die Aufwartung in West Cork gemacht hatte. Arme Mary.
Einzelne Blogger versuchen nun, den Lama-Sex mit erwachsenen Frauen in der moralischen Verwerflichkeit auf eine Stufe zu stellen mit dem Pädo-Sex irisch-katholischer Schweinepriester, die über Jahrzehnte hinweg schutzlose, abhängige Kinder und Jugendliche sexuell missbraucht haben. Sie sollten vielleicht einmal über ihr Verhältnis zur katholischen Kirche meditieren und über die Frage, warum ihnen der Maßstab unter die Gürtelinie gerutscht ist. Es geht auch nicht darum, ob der Tibeter Frauen “gegen ihren Willen zum Sex gebracht hat” – die meisten “Augenzeuginnen” fühlten sich nach eigenen Angaben zunächst geradezu freudig erwählt, später allerdings ob der Profanität des Akts wohl um den spirituellen Mehrwert betrogen. Soll man es Etikettenschwindel nennen, oder Täuschung?
Die Unschuldsvermutung jedenfalls gilt auch in Irland und auch für Rote Roben – zumindest solange, bis es eine Verurteilung durch ein ordentliches Gericht gibt. Bis heute gibt es diese nicht. Aber was nicht ist, kann noch werden. Wo sind all die Frauen, haben sie den Mut, aus der Deckung zu treten, und der Wahrheit die Ehre zu geben? Sie haben dafür, wie man beim amerikanischen Buddhismuslehrer Jack Kornfield lesen konnten, sogar die ausdrückliche Unterstützung des Dalai Lama.
Für Sogyal Rinpoche – mittlerweile ein Mann im fortgeschrittenen Alter – wäre es derweil an der Zeit, die Karten endlich selber auf den Tisch zu legen und sich zu erklären. Die Vorwürfe stehen seit 15 Jahren im Raum – der Lama und seine Organisation Rigpa tabusieren das Thema seitdem, allerdings mit nur mäßigem Erfolg. Wer den kleinen, bisweilen launischen, manchmal giftigen und zeternden Buddhismuslehrer studiert hat, wer um seine Distanz zur Askese und seine Nähe zu irdischen Genüssen weiß, der weiß auch, dass dieser Mann kein Heiliger ist. Er ist ein heller Stern mit einem großen dunklen Fleck – ein brillianter Lehrer und Übersetzer des Buddhismus, ein Mittler der Kulturen, ein Mann, der mit seinem Engagement vielen Menschen weltweit Hilfe und Trost in schweren Lebenssituationen geleistet hat, der tiefe Einsichten in die menschliche Existenz vieldimensional erklären kann – auch ein ganz profaner, dicklicher Mann mit Schwächen und roter Arbeitskleidung, und möglicherweise ein “Schweinsack”. Sag an, Mann im roten Gewand.

Foto: Sogyal Rinpoche trifft Irlands Präsidentin Mary McAleese 2007 in West Cork. (c) Rigpa.
* Eine neue, seriös wirkende Darstellung der Faktenlage zu Sogyal Rinpoche gibt der Dialog Ireland Trust im Netz.