Wie soll man leben? Wie lebt man richtig? Was ist das gute Leben? Diese Fragen (und die, wie man richtig stirbt) bewegen die Menschen schon immer. Sie ernähren heute ganze Branchen der Industrie für Sinnstiftung und Glück. Im Jahr 1927 setzte sich in Terre Haute im US-Bundesstaat Indiana ein 55-jähriger Amerikaner mit bayerischen Wurzeln vor ein leeres Blatt Papier und formulierte seine Sicht des Lebens. Der Jurist und Schriftsteller Max Ehrmann nannte sein Gedicht Desiderata, es wurde berühmt, nachdem er 1945 gestorben war.

Richard Newburgh Hutchins (Foto oben 2010, unten 2009), der Patriarch der anglo-irischen Hutchins-Familie aus Ardnagashel, County Cork, Irland, gab mir vor Jahren eine Kopie von Desiderata. Er hielt es für eine gute Quintessenz, wie man das Leben gut leben kann. Mit 90 Jahren hatte er seiner bequemen Alters-Existenz in England den Rücken gelehrt und war zurück in den Wald seiner Ahnen nach West Cork gezogen. Als Förster und Forscher wohnte er im Wald von Ardnagashel in einem schlichten Wohnwagen am Ufer der Bantry Bay. Dick Hutchins starb im Januar 2013 nach einem erfüllten Leben im Alter von 97 Jahren. Hier seine Lebensregeln, Desiderata von Max Ehrmann.

 

Desiderata

Gehe ruhig und gelassen durch Lärm und Hast
und sei des Friedens eingedenk,
den die Stille bergen kann.

Stehe – soweit ohne Selbstaufgabe möglich –
in freundlicher Beziehung zu allen Menschen.
Äussere Deine Wahrheit ruhig und klar und höre anderen zu,
auch den Geistlosen und Unwissenden;
auch sie haben ihre Geschichte,
Meide laute und aggressive Menschen,
sie sind eine Qual für den Geist.

Wenn Du Dich mit anderen vergleichst,
könntest Du bitter werden und Dir nichtig vorkommen;
denn es wird immer jemanden geben,
grösser oder geringer als Du.
Freue Dich Deiner eigenen Leistungen
wie auch Deiner Pläne
bleibe weiter an Deiner eigenen Laufbahn interessiert,
Sie ist ein echter Besitz im wechselnden Glück der Zeiten.

In deinen geschäftlichen Angelegenheiten
lass Vorsicht walten; denn die Welt ist voller Betrug.
Aber dies soll dich nicht blind machen
gegen gleichermassen vorhandene Rechtschaffenheit.

Viele Menschen ringen um hohe Ideale;
und überall ist das Leben voller Heldentum.
Sei Du selbst; vor allen Dingen heuchle keine Zuneigung.
Noch sei zynisch was die Liebe betrifft;
denn auch im Angesicht aller Dürre und Entäuschung
ist sie doch immerwährend wie das Gras.

Ertrage freundlich-gelassenden den Ratschluss der Jahre,
gib die Dinge der Jugend mit Grazie auf.
Stärke die Kraft des Geistes,
damit sie Dich im plötzlich hereinbrechenden Unglück schütze.

Aber beunruhige Dich nicht mit Einbildungen.
Viele Befürchtungen sind Folgen von Erschöpfung und Einsamkeit.
Bei einem heilsamen Mass an Selbstdisziplin sei gut zu Dir selbst.
Du bist ein Kind des Universums,
nicht weniger als die Bäume und die Sterne;
Du hast ein Recht hier zu sein.
Und ob es Dir nun bewusst ist oder nicht;
zweifellos entfaltet sich das Universum wie vorgesehen.
Darum lebe in Frieden mit Gott,
was für eine Vorstellung Du auch von ihm hast
und was immer Dein Mühen und Sehnen ist.

In der lärmenden Wirrnis des Lebens
erhalte Dir den Frieden Deiner Seele.
Trotz all ihrem Schein, der Plackerei und den zerbrochenen Träumen
ist diese Welt doch wunderschön.

Sei vorsichtig, strebe danach, glücklich zu sein.

 

Diese Ratschläge fürs Leben haben nach fast einem Jahrhundert seit ihrer Niederschrift etwas faszinierend Zeitloses.

*Desiderata in einer deutschen Übersetzung von Friedrich Schütter
Foto oben: ©  Markus Bäuchle [ed150312]