Ambulanz in Irland_© Eliane Zimmermann

Ein anonymer Autor schrieb Anfang März in der Irish Times einen anrührenden Essay über einen arbeitslos gewordenen Familienvater und seine schwerhörige Tochter. Möglicherweise schrieb der Autor über sich selbst: Die Familie kündigte die Krankenversicherung, weil das Geld fehlte, nun drohte das kleine Mädchen seine Zukunft zu verlieren, bevor das Leben richtig begonnen hatte.  Irland-Blog-Autorin Nicola Falk hat diese Kurzgeschichte aus dem wirklichen Leben, die die soziale Wirklichkeit in Irland so treffend beschreibt, für uns übersetzt. Die Geschichte ist lesenswert – und sie hat sogar ein Happy End.

Eines Tages begreift er dann, dass seine Tochter taub ist

Arbeitslos sein: Es ist eine Sache zu lernen, genügsamer zu leben – kein zweites Auto mehr, kein Sky+ mehr -; aber es ist etwas ganz anderes, medizinische Behandlung zu brauchen und nicht mehr ausreichend versichert zu sein.

Sich nur aus Neugier bewerben; die Kreditkarten-Rate neu verhandeln (und wie die übrige Nation erkennen müssen, das dieses Geschacher um Zinsspannen kaum einen spürbaren Effekt hat); den Genossenschaftskredit umschulden; zwei Wagen durch einen ersetzen; die Vorschul-Stunden der Ältesten auf die reduzieren, die vom Staat bezahlt werden; das Festnetz abschaffen, und Sky+, und verschiedene kleine Träume.

Alles abschalten, auch das Radio; das Land hat sich nach den Wahlen nach außen hin sowieso beruhigt und den Deal mit dem EU-Währungsfonds akzeptiert. Die Zeitung online lesen. Zu den Billigstunden ins Fitnesscenter gehen. Donnerstags kurz vor Ladenschluss im Tesco aufkreuzen, um die Last-Minute-Angebote abzugreifen. Zwei statt eins kaufen. Keine Blumen mehr kaufen.

Einen Küchenhocker nach draußen tragen, mit Stiefeln in die Mülltonne steigen. Hüpfen. Aber nicht vor Freude.

Nichts verschwenden, sich nichts wünschen. Preise vergleichen. Das Mindesthaltbarkeitsdatum lesen. Abmelden. Das Geld zusammenhalten.

Es reicht bloß nicht. Also entschließen er und seine Frau sich zu weiteren Einsparungen. Und so machen sie den Fehler . . . . .

Die Vierjährige ist oben im Wald, unten am Strand, jeden Tag, immer abwechselnd. Ihre Haut glüht. Sie kündigen die private Krankenversicherung für sie und Papa (raucht nicht mehr, trinkt nicht mehr, täglich im Fitnessstudio und daher technisch gesund), lassen sie nur für Mama und das Baby weiterlaufen. Dann flüstert er seiner Tochter eines Tages zu, auf den Wind zu hören. Begreift, dass sie taub ist, für alles außer für menschliche Stimmen. (Er hatte schon den Verdacht, dass etwas nicht stimmt – „fey“ statt „face“, „how“ statt „house“. In den Früherkennungstests war nichts aufgefallen. Aber er war immerhin so besorgt, dass er in der Kinderkrippe nachfragte. „Nichts Schlimmes“, sagten sie. Ist bloß ein bisschen eine Träumerin. Könnte vielleicht einfach ein beginnender Dubliner Akzent sein.)

Die Sorgen verringern die Fähigkeit, entscheidende Einzelheiten zu bemerken. Zu beschäftigt mit Rechnungen und Kontoauszügen.

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Der Hausarzt schreibt eine Überweisung an das Temple Street Children’s University Hospital. Einige Wochen später kommt ein Brief und teilt mit, dass möglicherweise – in anderen Worten: mit Sicherheit – mit einer Wartezeit von 18 bis 24 Monaten zu rechnen sei. Zu dieser Zeit wird ihre Tochter die Grundschule angetreten haben. Und ihren langsamen Abstieg.

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Sie wissen genug, um sich nicht auf das staatliche Gesundheitssystem zu verlassen. Irgendwie wollen sie etwas Privates machen. Er stellt bei „DoneDeal“ sein Motorrad zum Verkauf ein und fährt, so lange es noch geht, damit in die Berge, wann immer es passt.

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In der Audiologie-Klink in Cabra versucht seine Tochter erfolglos mit einem Jungen zu spielen, der diese hohe Stimme hat, die taube Kinder oft aufweisen. Seine Eltern sind blass. Kein Versuch einer Unterhaltung. Die zuständige Nonne ist alt und erschöpft. Versucht seit Jahren, in den Ruhestand zu gehen. Unter ihrer fast schon wortkargen Distanziertheit nimmt er eine Anteil nehmende, engagierte Frau wahr. Sie beglückwünscht ihn zu den Manieren seiner Tochter. Eine Aufwallung von Stolz. (Was hat Jackie Onassis gesagt? „Wenn Sie die Erziehung Ihrer Kinder verpfuschen, sind Ihre sonstigen Erfolge nicht viel wert.“)

Die Nonne teilt ihm mit, dass sie dafür zwar formell nicht ausgebildet sei, aber nach ihrer Diagnose sei das Kind erheblich, wenn nicht weitgehend taub.

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Der Facharzt ist zuvorkommend, sogar reizend. Ihre Tochter hat auf dem einen Ohr 50 Prozent Hörverlust, auf dem anderen 55 Prozent. Es ist eine Operation erforderlich, um Paukenröhrchen ins Innenohr einzusetzen.

Er empfiehlt, dass sie danach für mindestens sechs Monate das Schwimmen vermeidet (kein Problem, die Familienkarte ist längst gekündigt) und auch das Fliegen (allein die Möglichkeit wäre toll). Sie besprechen Einzelheiten ihrer Versicherung, dann den Umstand, dass sie keine Arbeit mehr haben, dass die vor kurzem wieder eingesetzte Police storniert wurde. Er verspricht zu sehen, was er tun kann. Sie geben der Empfangsdame 150 €, versuchen dabei zu lächeln. Im Auto schläft das Kind, während die Erwachsenen kirchenstill bleiben, bange.

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Er kann nicht mit ihnen umgehen, mit ihren roboterartigen Sch***-Antworten. Seine Frau neigt weniger dazu, ins Telefon zu brüllen. Die Versicherungsleute argumentieren, dass ihre Tochter eine Vorerkrankung habe, dass sie nicht mitversichert sei, weil sie ihre Police vor dem Hausarztbesuch – in deren Wahrnehmung der Entstehungszeitpunkt der Erkrankung – kündigten. Tut mir leid. Er ruft den Facharzt an. Diese Ruhe in des Mannes Stimme. (Ich war auch mal so, auf der Arbeit, und auch sonst, denkt der Arbeitslose. Ich erinnere mich. Dunkel.)

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Der Facharzt spannt sich vor ihren Karren. Er hängt nicht in Warteschleifen, und er muss auch keine Dudelmusik ertragen. Er stellt ganz ruhig dem Recht des Versicherungssachbearbeiters seine Expertenmeinung gegenüber: Hat er Kinderheilkunde studiert? Das Kind hat keine Vorerkrankung. Als die Versicherung gekündigt wurde, als die Untersuchung durch den Hausarzt vorgenommen wurde – der, nur für die Akten, auch kein Fachmann ist -, wies es lediglich eine Ansammlung von Ohrenschmalz auf. Der Versicherungsmensch mauert. Der Facharzt erinnert ihn daran, dass er sowohl privat Versicherte als auch Kassenpatienten hat, und dass es wegen der endlosen Wartezeiten sehr wohl zu seinen Befugnissen gehört, den Kassenpatienten zu raten, sich privat versichert behandeln zu lassen. Der Versicherungsmensch rudert zurück. So funktioniert das System. Finde jemanden mit Einfluss, der sich für dich einsetzt. Oder sinke auf den Grund. Mit dem übrigen Bodensatz.

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Die Operation verläuft erfolgreich. Sie sind wieder im Wald.

– „Was flüstert der Wind, Papa?“

– „Ähm, er sagt: ‚Mach Dir keine Sorgen, alles wird gut.’ “

– „Nein, Papa, er sagt, ‚Du bist ein Blödmann. Und du fängst mich nicht…’ “

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Ihr Lachen hebt ihn auf und über sich hinaus, erinnert ihn gewaltsam daran, wer er zu sein hat. (Wenigstens vor seinen Kindern.)

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Er schreibt der Nonne einen Dankesbrief. Kauft eine anständige Flasche Rotwein, tankt für fünf Euro, fährt zum Facharzt. Nur weil er vergessen wurde, heißt das nicht, dass er seine Manieren schleifen lassen sollte, seine Erziehung.

Der Mann, der er mal war.

 

Ein Dank an die Irish Times für diesen Beitrag.